Es gibt diese Menschen, denen erzählen anderen gerne ihr Leben, schütten ihnen einfach mal eben ihr Herz aus. Woran das genau liegt, vermutlich ist es ein unwiderstehlicher Mix, liegt etwas Seelsorgerhaftes im Blick des anderen, vielleicht auch etwas Verwundbares, irgendetwas jedenfalls von dem man annimmt, die eigene Geschichte wird verstanden und ist hier sicher aufgehoben.
Was es nun genau bei Bestsellerautor Ferdinand von Schirach ist, vielleicht all das, er kann selbst auf Fotos auf eine fast schon eindringliche Art freundlich wirken, vielleicht noch etwas anderes – Aurareste des Strafverteidigers, dem man ja alles erzählen darf, auch das Schlimmste. Es sind auf jeden Fall irre Geschichten, die Ferdinand von Schirach erfährt – allein auf Reisen, in Hotelbars, Salons, alten Villen, die ihm nachhängen und die er dann weitererzählt, zur Literatur verwandelt. Jetzt zu lesen im eben erschienenen autobiografisch grundierten Erzählungsband „Nachmittage“.
Schirachs Geschichten erinnern an "Lost in Translation"
Eine jetzt gleich: Der Ich-Erzähler also ist in Tokio, er hat sich im Hotel einquartiert, wo „Lost in Translation“ gedreht wurde, und nicht nur das, auch in genau dem Zimmer, in dem Bill Murray im Film gewohnt hat. Für den Erzähler, erkenntlich in allem sehr nahe dran an von Schirach selbst, ist es einer der wunderbarsten Filme, die er kennt. „Die Traurigkeit verschwindet auch in ihm nie so ganz, so wie sie im Leben nie ganz verschwindet. Aber hier ist sie leicht und warm, und vor allem ist sie oft unglaublich komisch.“ Er schaut den Film im Hotelzimmer gleich noch mal. Dann, nach einem wahnsinnig langen Tag mit Theaterpremiere und Interviews, völlig übermüdet, geht er noch auf eine Tasse Kaffee in die Bar, und weil der Tisch aus Versehen offenbar zweimal vergeben wurde, lernt er eine Amerikanerin kennen, Allison, die nach eigentlich feinem Small Talk auf die Frage, warum sie in Japan sei, mit Tränen in den Augen anfängt ihre Geschichte zu erzählen. Einfach so. „Keine gute Geschichte, na ja, eigentlich ist sie es schon, sie ist schließlich mein Leben.“
Hier nur ganz kurz: Es geht um eine erfolgreiche Karriere in einer New Yorker Kanzlei, zwei smarte, schlanke, wohlhabende Menschen, die wahnsinnig viel arbeiten, darüber auch im Grunde ihre Ehe vergessen, eine Affäre mit einem Rockstar, eine wahnsinnig schöne und unglaublich kostbare Uhr … und eine wirklich verrückte Wendung. Die Uhr jedenfalls hat Allison nicht mehr. Das Leben aber tickt einfach weiter …
Verrückte Geschichten prägen Schirachs Erzählband "Nachmittage"
Eine verrückte Geschichte also, beiläufig aufgesammelt in der Bar, die der Schriftsteller auf wenigen Seiten perfekt erzählt: Im knappen Schirach-Stil, keine Schleifen, ein paar Seiten reichen für ein ganzes Leben, oder zumindest die Essenz davon … Und weil Schirach auch das so gut kann, Stimmungen beschwören, Atmosphäre schaffen, Personen in wenigen Sätzen zu skizzieren, kann man sich gleich den nächsten Film in diesem Hotel vorstellen, basierend auf dieser Erzählung …
Was kann man also doch für einen schönen langen Nachmittag mit diesem Buch verbringen. 26 Geschichten, manche nur kurz, fast notizartig, Anekdoten, andere mehrseitige Erzählungen, Erinnerungen, Reflexionen über Kunst. Man sollte es aber vielleicht besser nicht tun, also am Stück lesen. Weil diese Geschichten in Reihe, so unterschiedlich sie sind, so eindringlich die besten von ihnen wirken, die ähnliche Machart hervortreten lassen. Schirach geht es immer ums Menschsein, um die entscheidenden Momente im Leben: eine Pianistin, die nicht mehr auftreten will; eine junge Frau, die sich am Wohltäter und zugleich Täter rächt; eine Ehefrau, die eine falsche Anschuldigung äußert. Warum? Er ist ein Erzähler, der nicht plaudern will, es manchmal aber dennoch ganz wunderbar und elegant tut, sondern der den Moment des Erkennens erzeugen möchte, auch der Nähe: So ist der Mensch, sucht, sehnt, irrt, so eben vielleicht auch ich, aber eben nicht allein. Schirach, der Menschenversteher.
Manchmal sind von Schirachs Pointen erwartbar
Aber er steuert in seinen Erzählungen, die einen durch eine oft privilegierte Welt führen, ins Nobelhotel nach Marrakesch, zur aus alter Familie stammenden Nenntante nach Pamplona, auch aber an einen Friedhof in Berlin, er steuert am Ende jedenfalls immer unweigerlich auf eine unerwartete Wendung, eine Pointe zu. In der Serie aber wird genau die dann erwartbar. Die Überraschung, der große Satz am Ende, die parabelhafte Auflösung, ist das, mit dem man rechnet. Die knappsten, die schwächeren Geschichten leben im Grunde nur von diesem Effekt. Die kurze Erzählung über die Tänzerin Isadora Duncan, die starb, weil sich ihr langer Schal in den Autospeichen verhedderte, endet wenige Sätze später mit einer Anmerkung von Gertrude Stein: „Affektiertheit kann gefährlich sein.“
Also besser in Stückchen lesen, an vielen Nachmittagen genau jener warmen, komischen Traurigkeit nachspüren, die der Erzähler am Film „Lost in Translation“ so liebt. Und sich manchmal aber auch denken, wenn es doch allzu schnurrig wird, warum?
Ferdinand von Schirach: Nachmittage. Luchterhand, 176 Seiten, 22 Euro.