Die Mütter sind immer das Problem. Man muss gar nicht auf Alfred Hitchcocks "Psycho" zurückgreifen, man nehme nur einen durchschnittlichen "Tatort" mit einem mordenden Psychopathen – und wer ist verantwortlich dafür, dass er das tut, was er eigentlich nicht tun sollte? Genau. In das Problemfeld Mutter führt auch das neue Werk von Franz Dobler, und auch hier geht es übrigens irgendwann um Serienkiller, in erster Linie aber darum, "Ein Sohn von zwei Müttern" – so der Titel – zu sein.
Der Erzähler in "Ein Sohn von zwei Müttern" hat einiges mit dem Autor Franz Dobler gemeinsam
"Manchmal war er stolz darauf, dass es ihm gelungen war, in keiner Heilanstalt zu landen, obwohl er es mit zwei Müttern zu tun hatte", berichtet der Erzähler. Die eine hat ihn auf die Welt gebracht, die andere hat sich um ihn gekümmert. Erstere nennt er Mutter und hat sie erst einmal gesehen, die zweite ist "die Mama" und gerade gestorben. Ein adoptiertes Kind ist dieser namenlose Erzähler also, der einiges mit dem Autor gemeinsam hat, der aber durch das unpersönliche "er" auf Distanz gehalten wird.
Schriftsteller und Musikliebhaber ist er, wie Dobler selbst, der 1959 geboren, in Schongau aufgewachsen ist und seit vielen Jahren in Augsburg lebt. Nach beachteten Musikbüchern, unter anderem einer Biografie über die Country-Legende Johnny Cash, schrieb er sich mit dem Krimi "Ein Bulle im Zug" in die Bestsellerlisten und gewann den Deutschen Krimipreis. Rau, ruppig und doch mit einer großen Wärme für seine Figuren schreibt Dobler, auch in seinen Gedichten, die er zuletzt in dem Band "Ich will doch immer nur kriegen was ich haben will" veröffentlichte.
Was erwartet ihn, wenn die Mutter die Tür öffnet?
Lange habe er sich darum gedrückt, über das Dasein als Adoptivkind zu schreiben, legt er dem Erzähler in den Mund, gegenwärtig war es in all seinen komplizierten Gefühlen und Fragestellungen immer. "Keine einfache Geschichte", deswegen wollte er nie darüber schreiben. Was für anscheinend immer mehr Autoren und Autorinnen das höchste der Gefühle war – das eigene Leben bis zum skandalösen Krümel Gras in Opas Nachtkasten zu erforschen –, langweilte ihn. Dummerweise hatte er über die Jahre einen Berg Notizen gesammelt, der mit seiner Adoption zu tun hatte und von dem er eines Tages das dumme Gefühl hatte, ihn aus dem Weg räumen zu müssen." Jetzt sitzt er auf dem Weg zu seiner leiblichen Mutter im Flugzeug nach New York, nervös wegen Flugangst und der Befürchtung, dass der Flieger sein Ziel nie erreichen wird. Gleichzeitig ist dies auch eine Hoffnung, denn was erwartet ihn wohl auf der anderen Seite des Atlantiks, wenn die Mutter die Türe öffnet?
Mit vier Monaten ist das Kind aus einem Waisenhaus zu Papa, Mama und einer 13 Jahre älteren Schwester gekommen. Als der Erzähler erfährt, dass er ein Adoptivkind ist, ist es kein Schock und spielt fortan auch nicht die erste Geige in seinem Leben. Vor allem dank der Mama wächst er in Geborgenheit und Fürsorge auf, ohne einen Unterschied zwischen leiblichem und adoptiertem Kind zu spüren, in der kleinbürgerlichen Eisenbahnersiedlung einer oberbayerischen Kleinstadt, wo schon die langen Haare und die Vorliebe für Rockmusik vom autoritären Vater als Rebellion gegen das Elternhaus aufgefasst werden. Ein atmosphärisch dichtes Bild zeichnet Dobler von der oberbayerischen Provinz in den 60er-, 70er- und 80er-Jahren zwischen Katholizismus und dem Jazz eines Miles Davis, zwischen der Bewältigung der Kriegsvergangenheit und CSU-Gefolgschaft. Als der Sohn aus der Art schlägt, sich aufmacht, nach katholischer Erziehung evangelische Theologie zu studieren und dann Schriftsteller werden will, schiebt es der Papa darauf, dass er eben nicht "sein eigen Fleisch und Blut sei." Trotzdem: Herkunft ist zweitrangig im Leben von Doblers Held, auch die persische seines Erzeugers, eines Austauschstudenten, mit dem die leibliche Mutter einen One-Night-Stand hatte. Keinen "Funken Neugier" verspürt er, nach ihm zu forschen.
Ein Forscher will Zusammenhänge zwischen Adoptivkindern und Serienkillern erkannt haben
Und doch ist da immer dieser Stachel im Fleisch, dem der Erzähler nun literarisch zu Leibe rückt: die existenzielle Verunsicherung, die Frage, inwiefern ihn die Adoption zu dem gemacht hat, der er ist. Die aberwitzige These eines amerikanischen Wissenschaftlers, dass männliche Adoptivkinder mehr gefährdet sind, zu Serienkillern zu werden – woraufhin der Erzähler seine kriminelle Vergangenheit überprüft, dabei aber nur auf den Jugendfreund Hans trifft, der schon früh eine kriminelle Ader entwickelt hat – macht deutlich, mit welchen Vorurteilen und Zuschreibungen das Thema immer noch behaftet ist.
Viele Fakten, Erkenntnisse und Mutmaßungen um den Themenkreis Adoption sammelt der Erzähler zusammen, reiht sie mit persönlichen Erinnerungen, Assoziationen und Begegnungen zu einer "Geschichte in Fetzen" aneinander und färbt dahinein ein Muster aus literarischen und musikalischen Bezügen von Hera Linds Schmonzette "Kuckucksnest" bis hin zu Brian Enos legendärem Sampler "No New York". Eine großartige Konstruktion aus erzählendem und sachlichem Text, die nie aus dem Fluss gerät, auch, weil oft ein feiner, aber spitzer Humor aufscheint, der lakonisch bis ironisch kommentiert.
Franz Dobler reflektiert über das eigene Schreiben
Das eigene Schreiben ist immer wieder ein Thema in Doblers Roman, nicht nur in den in eckige Klammern gesetzten lektorierenden Anmerkungen über stilistische Fragen, ebenso die Suche nach dem eigenen Ich und die Zuverlässigkeit der Erinnerungen. Doch der Erzähler kreist dabei nicht nur um sich selbst und deshalb ist "Ein Sohn von zwei Müttern" weit entfernt von sich entblößender Bekenntnisliteratur. Persönlich und emotional ist er dennoch, dieser erzählerisch ganz und gar aufregende Roman, diese "Geschichte in Fetzen", die sich zu einem großartigen Gewebe zusammenfügt.
Franz Dobler: Ein Sohn von zwei Müttern. Tropen Verlag, 224 Seiten, 22 Euro. Franz Dobler ist zu Gast beim Literaturabend der Augsburger Allgemeinen am Samstag, 16. März, um 19 Uhr in der Stadtbücherei Augsburg.