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Literatur: Eigentlich doch alles zum Heulen

Literatur

Eigentlich doch alles zum Heulen

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    Der Autor Bov Bjerg hat eine gruselige Dystopie entworfen.
    Der Autor Bov Bjerg hat eine gruselige Dystopie entworfen. Foto: Arne Dedert, dpa

    Europa Ende des 21. Jahrhunderts, eine reiche Dame gibt in einem Büro eine Bestellung auf. Sie braucht einen professionellen Vorweiner für ihre eigene, in hoffentlich ferner Zukunft stattfindende Totenfeier. Also einen, der richtig gut schluchzen kann, und die anderen mit seinen Tränen in angemessene Rührung bringt. Aber die Dame ist sich unsicher. Gutes hört man von den Westafrikanern, die eine „gewisse natürliche Melancholie“ mit sich bringen. Aber die Maklerin rät ihr stattdessen zu Niederländern, „sehr gebildet, sehr gute Manieren“. Und auch gehörig verzweifelt – was ja nötig ist zum Weinen –, weil die Niederlande nun unter Wasser liegen. Wichtig nur bei den Niederländern, man muss sie einmal die Woche mit Stamppot versorgen, Kartoffelbrei und Grünkohl .... sonst bauen sie die fürs Weinen wichtige Verbindung nicht auf. Erste Hochachtungsbekundung für Bov Bjerg an dieser Stelle, denn: So eine schräge, so eine groteske Geschichte, die muss einem wirklich erst einmal einfallen! Und Bjerg treibt sie in „Der Vorweiner“ gaggepeitscht ins Wahnsinnige, quer durch aktuelle Diskurslandschaften, verwandelt die Dystopie in eine Satire. Denn was eigentlich doch alles zum Heulen ist, liest sich bei Bjerg auch krachend komisch. Bis hin zu den Triggerwarnungen vor jedem Kapitel, in denen vor Dosenananas, Muckefuck oder Menopause gewarnt wird.

    Neuschwanstein ist zum Flüchtlingslager umfunktioniert

    Klimakatastrophe, Bürgerkriege – Europa ist in diesem Roman in weiten Teilen „kollabiert, verbrannt, überschwemmt ...“. Durch den Rumpfkontinent „Resteuropa“, gesichert und erhöht durch Beton, zieht sich eine Trennlinie: Auf der einen Seite regnet es, auf der anderen Seite scheint ununterbrochen die Sonne. Und scharf getrennt auch die Gesellschaft: eine wohlhabende Oberschicht, die prekär lebende Niederschicht. Und dann gibt es eben noch die Vorweiner, allesamt Flüchtlinge – in Willkommenslagern wie Neuschwanstein für ihre Aufgabe als Tränengastarbeiter auf Kurs gebracht. Die Trauer nämlich hat die Oberschicht ausgelagert – was die Dame Anna, kurz A. genannt, als großen zivilisatorischen Fortschritt betrachtet. So eine Trauer schließlich ist unangenehm. 

    Anna, kurz A., dürstet es dafür nach authentischen Erlebnissen: Kartoffeln ernten, Fenster kitten ... oder, sich in eine Sau einnähen lassen. Für all das zahlt sie die kurzgehaltene Niederschicht gerne. Ihre Tochter Berta, kurz B., die emotionslose Erzählerin dieser Geschichte, arbeitet als „Klickbeuterin“ für die „Hauptstrommedien“, bezeichnet sich selbst als letzte Verfasserin seriöser Nachrichten. In jeder ihrer Nachrichten stecke zumindest irgendein wahres Detail. Alle Nachrichten aber enden mit Geschrei: „Wir wollen unseren Hörer:innen die entsetzten Schreie der Witwe nicht vorenthalten“. Wie gruselig ist doch dieser Kontrollverlust! 

    Zweite Hochachtungsbekundung nun für Bov Bjerg: Wie er diese albtraumhafte Geschichte über eine gestörte Gesellschaft in einer zerstörten Natur verschachtelt und mitleidslos erzählt, Erzählperspektiven und Stil wechselt – den Leser dabei im Ungefähren lässt, wie sehr man dieser Klickbeuterin trauen kann. Es passiert übrigens ein Mord, ein Unfall, einige Tote jedenfalls wären zu beweinen. Vom Leser? Der ist zu gut unterhalten, daher einfach nicht verzweifelt genug. 

    Bov Bjerg: Der Vorweiner, Claassen, 240 Seiten, 24 Euro.

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