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Literatur: Gefeierter Autor, skrupelloser Sammler: Biografin zeigt Widersprüche bei W. G. Sebald auf

Literatur

Gefeierter Autor, skrupelloser Sammler: Biografin zeigt Widersprüche bei W. G. Sebald auf

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    Dem Schriftsteller W. G. Sebald wird eine unlautere Vermischung von Realität und Fiktion und kulturelle Aneignung vorgeworfen.
    Dem Schriftsteller W. G. Sebald wird eine unlautere Vermischung von Realität und Fiktion und kulturelle Aneignung vorgeworfen. Foto: Erwin Elsner, dpa (Archivbild)

    Wahr oder nicht wahr? Spielt diese Frage eine Rolle für Leserinnen und Leser fiktionaler Werke? Nein. Oder vielleicht doch? Hm. Wenn ein Roman fesselt, dann wohl, weil er eine Welt entwirft, die uns nicht nur fasziniert, sondern in die wir uns vertrauensvoll hineinstürzen. An deren Figuren – mögen sie noch so seltsam sein – wir wie ein Schatten kleben. Deren Schicksal uns bewegt und erschüttert. W. G. Sebald war so ein Schriftsteller, der dieses Handwerk blendend verstand. Der alles tat, um seiner Fiktion den höchst möglichen Anstrich an Authentizität zu verleihen. Dass dieses Verfahren allerdings auch seine Schattenseiten hat, davon erzählt Carole Angier in ihrem Buch „W. G. Sebald: Nach der Stille“, der ersten Biografie über den aus dem Allgäu stammenden Weltliteraten. 

    Ausgangspunkt für Carole Angier war 1996 „The Emigrants“, die englische Ausgabe des Erzählbandes „Die Ausgewanderten“ (1992). „Als ich spät in der Nacht das Buch zuklappte, war ich wie jemand, der verliebt ist – überglücklich, und ich sehnte mich danach, der Welt von diesem wunderbaren Schriftsteller zu erzählen.“ Susan Sontag ging es ähnlich. Die US-amerikanische Autorin und Publizistin war eine der prominentesten Verehrerinnen der Bücher Sebalds und begründete dessen Ruhm in der anglofonen Welt. Sebald, der nach England auswanderte und Professor für Neuere Deutsche Literatur an der University of East Anglia in Norwich war, wurde als Kandidat für den Literaturnobelpreis gehandelt, ehe er 2001 57-jährig bei einem Autounfall starb. 

    Die Biografin recherchierte im Allgäu und in England

    „In einer Biografie geht es immer darum, Löcher zusammenzufügen, wie bei einem Netz“, so beginnt die 79-jährige Carole Angier ihr Vorwort. Ein schweres Unterfangen, denn Sebald hielt Privates unter Verschluss, seine Witwe und Tochter schweigen, ebenso Sebalds Freund Jan Peter Tripp und sein letzter englischer Lektor Simon Prosser. Doch Angier ließ nicht locker, suchte Menschen in England und im Allgäu auf, die Sebald begegneten, sprach mit Uni-Kollegen und Nachbarn, wanderte mit einem Schulfreund auf dem „Sebald-Weg“, der vom Oberjoch zu Sebalds Geburtsort Wertach führt. Sie durchforstete eigene und fremde Interviews und klopfte die vier großen Prosa-Bücher „Schwindel. Gefühle.“, „Die Ausgewanderten“, „Die Ringe des Saturn“ und „Austerlitz“ auf biografische Hintergründe ab. 

    Was die englische Biografin, deren jüdische Eltern während der Nazi-Zeit in Wien nur knapp dem Tod entkamen, antrieb, war nicht nur ihre Begeisterung für die Bücher des 1944 geborenen Autors, sondern, „dass Sebald der deutsche Schriftsteller war, der die Last der deutschen Verantwortung für den Holocaust am tiefsten auf sich nahm“. Deshalb haderte Sebald auch mit seinen Vornamen und kürzte sie ab: Winfried war für ihn ein Nazi-Name und Georg hieß sein ungeliebter Vater, der in der Wehrmacht war. Von Freunden und der Familie wollte er ab 1966 – da trat er an der Universität Manchester eine Lektorenstelle an – mit Max angesprochen werden. 

    Winfried Georg Sebald verbreitete in Interviews Unwahres

    Was Angier bei ihren Recherchen irritierte, war, dass bei Sebald ein jüdisches Thema oftmals nicht-jüdische Wurzeln hatte. Beispiel: Dr. Henry Selwyn. So heißt die erste Erzählung in den „Ausgewanderten“. Vorbild für die Hauptfigur, die sich mit einem Jagdgewehr das Leben nimmt, war Dr. Philip Rhoades Buckton. Sebald hatte mit seiner Frau auf dessen Anwesen in der Nähe von Norwich eine Wohnung gemietet. Dass Sebald ihrem Großvater eine jüdische Herkunft andichtete, empörte die Enkelin Tessa Buckton weniger. „Was mich stört, ist, dass er seinen Selbstmord benutzt hat.“ Ihr Großvater habe sich das Leben genommen, weil er an Arthrose litt – und nicht, weil er die Erinnerung an den Holocaust nicht mehr ertrug. 

    Dass Sebald selbst in Interviews flunkerte und Unwahres verbreitete, hatte Angier selbst erlebt. Sebald hatte ihr in einem Interview von einer Begegnung mit Dr. Henry Selwyn berichtet, und dass der ihm seine jüdische Herkunft angedeutet hätte. Selbst Fotos hat Sebald gefälscht, wie Angier in der Erzählung „Ambros Adelwarth“ entdeckte. Eine brandgefährliche Sache ist das für die Biografin, weil so etwas „Holocaust-Leugnern geradezu den Boden bereitet“. 

    Hier der gefeierte Schriftsteller, dort der skrupellose Sammler

    Ambivalent ist das Bild, das Angier von Sebald auf über 560 Seiten zeichnet (hinzu kommt ein 140-seitiger Anhang). Hier der gefeierte Schriftsteller, der melancholische, rätselhafte Geschichten erzählt, in einer mäandernden Sprache, mit Bildmaterial und Echos aus diversen Zeiten und (Kunst-)Räumen. Dort der skrupellose Sammler, der Eindrücke und Erlebnisse direkt in Bücher gießt. Aber ist das tatsächlich verwerflich? Im Grunde sei jeder Schriftsteller rücksichtlos, schreibt dann auch Angier. Der Maler Frank Auerbach wollte dies aber nicht akzeptieren: Er gab vor Erscheinen der englischen Ausgabe der „Ausgewanderten“ den Abdruck zweier auf ihn bezogenen Abbildungen nicht frei und setzte eine Umbenennung der Erzählung durch (aus „Max Aurach“ wurde „Max Ferber“). Angier: „Auerbach hat Sebald nie verziehen.“ 

    21 Jahre nach seinem Tod ist Sebald nicht mehr ein strahlender Stern am Literaturhimmel. Literaturexperten werfen ihm kulturelle Aneignung, selbstgerechten Moralismus und eine unlautere Verquickung von Realität und Fiktion vor, bezichtigen ihn der Übergriffigkeit und Lügerei. Die Aufregung, die durch die Biografie Carole Angiers in geballter Form sichtbar wird, dürfte die erst 2019 in Kempten gegründete „Deutsche Sebald Gesellschaft“ freuen. Sie liefert viel Stoff für Tagungen und Anregungen für den hoch dotierten Sebald-Literaturpreis (10.000 Euro). 

    Für „Sebaldianer“ ist Carole Angiers detailverliebte, mitunter emotionale und phasenweise auch spannende Biografie eine Fundgrube, in der man sich verlieren kann. Wer wieder herausfindet, greift vielleicht zu einem Sebald-Buch, und findet wundervolle Zeilen wie diese aus der Erzählung „Ambros Adelwarth“: „Die Erinnerung“ fügt er in einer Nachschrift hinzu, „kommt mir oft vor, wie eine Art von Dummheit. Sie macht einen schweren, schwindeligen Kopf, als blickte man nicht nur zurück durch die Fluchten der Zeit, sondern aus großer Höhe auf die Erde hinab von einem jener Türme, die sich im Himmel verlieren.“ 

    Carole Angier: W. G. Sebald: Nach der Stille. Übersetzt aus dem Englischen von Andreas Wirthensohn. Carl Hanser Verlag, 720 Seiten; 38 €.

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