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Literatur: Die menschliche Tragödie hinter dem Mythos Marilyn Monroe

Literatur

Die menschliche Tragödie hinter dem Mythos Marilyn Monroe

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    So kennt sie die Welt als meist fotografierte Frau des 20. Jahrhunderts bis heute: die verführerisch in Szene gesetzte Marilyn Monroe.
    So kennt sie die Welt als meist fotografierte Frau des 20. Jahrhunderts bis heute: die verführerisch in Szene gesetzte Marilyn Monroe. Foto: dpa-archiv

    Ja, auch auf die berühmtesten Rätsel gibt es Antworten: Hatte sie eine Affäre mit John F. Kennedy, für den sie wenige Wochen vor ihrem Tod, wie immer ohne Unterwäsche in ein hautenges Paillettenkleid eingenäht, jenes Ständchen „Happy Birthday, Mr. President“ hauchte? Und war dieser Tod 1962, mit 36 Jahren, gar keine absichtliche oder versehentliche Überdosis, sondern eine vertuschende Tat der C.I.A.? Aber ob das nun die tatsächlichen Fakten sind, die Joyce Carol Oates in ihrem Buch über Norma Jeane Baker alias Marilyn Monroe dazu geschrieben hat? Wo doch zu Beginn von „Blond“ der Vermerk steht, es handle sich hier nicht etwa um eine Biografie, sondern einen Roman?

    Es spielt tatsächlich gar keine Rolle. Denn die unfassbare Joyce Carol Oates, die inzwischen 82-jährige New Yorkerin mit einem Riesenwerk von allein 59 Romanen, spürt der Wahrheit in wesentlicherem Sinne nach. Und das trägt tatsächlich einen Tausendseiter mit auch ziemlich kleiner Schrift, ein regelrechtes modernes Epos, von dem fasziniert und verstört eingesogen zu werden man zuvor nicht mal dem Mythos Marilyn verfallen sein muss.

    Joyce Carol Oates will in „Blond“ die Wahrheit hinter den Fakten finden

    Denn da ist zum einen das Staunen über eine Meisterschaft. Die wohl schönste Lobrede auf die Kraft der Literatur stammt von Reinhold Messner, der angesichts des Buchs „Der fliegende Berg“ von Christoph Ransmayr fassungslos konstatierte, dass dieser Autor mit seiner Kunst aus der Ferne das existenzielle Erlebnis auf den Gipfeln in einer Wahrhaftigkeit erfasst habe, wie er, der ja selbst immer wieder dort war, nie vermöge. In diesem Sinne reicht auch Joyce Carol Oates, die gewiss alles zu Norma Jeane’s Leben recherchiert hat, um es dann beiseite- zulegen und die Wahrheit dahinter – chronologisch, in ständigen Stil- und Perspektivwechseln – zu finden, so nahe wie nur irgend möglich heran an die größte aller Antworten: Wie es sich nämlich angefühlt haben mag, dieser eine Mensch zu sein, der da am 1. Juni 1926 geboren wurde.

    Beginnend mit einer prekären Kindheit bereits – die Mutter zunehmend gefährdend an paranoider Schizophrenie erkrankt, der Vater unbekannt, dann Waisenhaus und Pflegefamilie – entfaltet sich hier ein Drama, wie es Hollywood selbst nie verfilmen könnte, FSK 18: So schonungslos wird hier jener meistfotografierte Körper des 20. Jahrhunderts bloßgelegt (wie es nur eine Autorin kann), so explizit Sex beschrieben, gerade der erzwungene, schmerzhafte, der Missbrauch.

    Ihre erste Rolle: "Verdient" durch eine Vergewaltigung

    Und damit ist daran zum anderen auch etwas Zwingendes, dass dieses Buch 20 Jahre nach seinem Erst-Erscheinen nun vom auf Autorinnen und Frauengeschichten spezialisierten Ecco-Verlag wiederveröffentlicht wird. Da liest man in „Blond“, wie sich Norma Jeane ihre erste Rolle quasi damit verdiente, sich vom Produzenten brutal vergewaltigen zu lassen – und liest in aktuellen Zeitungen, dass Lady Gaga preisgibt, mit 19 von einem Produzenten missbraucht worden und daraufhin schwanger gewesen zu sein. Jene Sängerin, die vor wenigen Jahren in einem Dokumentarfilm von der Urangst erzählte, wie der Ruhm einen zerstören könne, die einen Namen trage: Marilyn Monroe. Eine 60, 70 Jahre alte Tragödie, ein 20 Jahre altes Buch – und noch immer stimmt die Gegenwart ein: #MeToo. Der Fluch der Frau: mächtige Männer.

    Das ist noch nicht Marilyn, das ist noch Norma Jeane: beim Foto-Shooting im Alter von 20 Jahren.
    Das ist noch nicht Marilyn, das ist noch Norma Jeane: beim Foto-Shooting im Alter von 20 Jahren. Foto: Joseph Jasgur, dpa-Archiv

    Zwei Momente gibt es für diese Norma Jeane Baker der Joyce Carol Oates, in denen alles vielleicht doch hätte gut werden können. Im ersten, ziemlich früh schon, dann hätte es Marilyn nie gegeben: Das Mädchen hat ihren bereits mit 16 geheirateten ersten Mann in den Krieg verabschiedet, sie arbeitet in der Rüstungsmontage, bezieht ein kleines Appartement – und ist erstmals frei! Bis wenig später ein Fotograf in die Fabrikhalle kommt und das sieht, was zuvor sogar schon ihrem Englischlehrer wie dem Pflegevater den Kopf verdreht hat: Dieses zarte Mädchen hat, bei milchweißer Haut und strahlend blauen Augen, so betörend frauliche Rundungen, dass in der Projektion Unschuld und Lust gemeinsam Funken schlagen.

    Ein Fotograf habe Monroes Karriere ermöglicht und Bakers Leben zerstört

    Dieser Fotograf habe ihr Leben zerstört, wird Norma Jeane hier später sagen, wohl wissend, dass er sie zugleich auf den Weg zur Erfüllung ihrer Träume gebracht hat. „Die goldene Prinzessin“ zu sein, die sie selbst in Jean Harlow bereits als Sechsjährige im Kino bewundert hat. Doch, später – das brünette Haar platinblond gebleicht, die quirligen Locken zu sinnlichen Wellen drapiert, zur Marilyn Monroe gemacht und genau das geworden – wird sie sich auf der anderen Seite auch immer weiter „das Bettelmädchen“ nennen, das sich nach nichts als Liebe und Geborgenheit sehnt, die sie als Kind schon nicht hatte.

    Und so ist der zweite Moment der möglichen Rettung der, als sie bereit ist, Marilyn hinter sich zu lassen. Nach dem Missverständnis einer zweiten Ehe mit dem „Ex-Sportler“, wie Oates die Baseball-Legende Joe DiMaggio nur nennt und klar macht, dass dieser der Komplexität von Norma/Marilyn keinen Hauch gewachsen war und einfach die schönste und heißeste Frau der Welt ganz allein für sich haben wollte – da trifft die Schauspielerin nach ihrer Flucht aus Hollywood in New York „den Bühnenautor“. Hinter dem im Buch ebenfalls Namenlosen steckt freilich Arthur Miller, der auch in der Lage ist, das Ausnahmetalent dieser Schauspielerin, den hungrigen Geist in diesem ihr selbst samt seiner Wirkung womöglich rätselhaften Körper zu sehen - und mit dem Norma Jeane ein Kind erwartet, endlich Familie, die inzwischen verhasste Marilyn los!

    Marilyn Monroe und ihr frisch angetrauter dritter Ehemann, der Dramatiker Arthur Miller, bevor sie am 13.07.1956 in New York ein Flugzeug nach Großbritannien besteigen.
    Marilyn Monroe und ihr frisch angetrauter dritter Ehemann, der Dramatiker Arthur Miller, bevor sie am 13.07.1956 in New York ein Flugzeug nach Großbritannien besteigen. Foto: Herb Scharfman, dpa-Archiv

    Die mögliche Rettung: Die dritte Ehe, mit Arthur Miller, und ein Kind

    Doch dann, was bekannt ist, aber in diesem Roman trotzdem mit voller Wucht wirkt: „Er rief einen Krankenwagen. Man brachte sie nach Brunswick ins Krankenhaus. Fehlgeburt in der fünfzehnten Schwangerschaftswoche.“ Es gibt tatsächlich Filmaufnahmen, die zeigen, wie diese Frau danach aus der Klinik abtransportiert wird – und schon von der Liege aus lächelt dabei wieder Marilyn Monroe in die Kameras. Keine Norma Jeane mehr, kein „Bühnenautor“ mehr, dafür schon bald die Glanzleistung in „Manche mögen’s heiß“. Im Buch steht: „Ich lebe jetzt für die Arbeit … Ich stecke in dieser blonden Puppe mit dem Gesicht fest. Ich kann nur noch durch dieses Gesicht atmen! Diese Nasenlöcher! Diesen Mund! … Ich will nicht Geld & nicht Ruhm, ich will nur vollkommen sein. Die blonde Puppe Monroe bin ich & nicht ich. Sie ist nicht ich. Sie ist, was geboren wurde. Ja, ihr sollt sie lieben. Damit ihr mich liebt. Ach, ich will euch lieben! Wo seid ihr? Ich suche, ich suche & es ist niemand da.“ Sie hat verzweifelt und schonungslos gesucht.

    Und so erfüllt sich letztlich das, was diese Frau, für die alles Scheitern in großer Karriere und wahrer Liebe immer gleich den möglichen Tod bedeutet, in „Blond“ von Anfang an bedroht: „Es war wie ein Drahtseilakt ohne Netz vor den kritischen Augen der anderen … Die Augen der anderen, die die Macht hatten, sie der Lächerlichkeit preiszugeben, zu verspotten, abzuweisen, sie zu feuern, sie wie einen geprügelten Hund in die Bedeutungslosigkeit zurückzujagen, aus der sie gerade erst auftauchte.“ Darum gerät sie trotz ihrer selbstaufopfernden Kunst, die Joyce Carol Oates beim Durchgang durch die wichtigsten Filme hingebungsvoll entfaltet, in fatale Abhängigkeit: „Ich war kein Flittchen und keine Schlampe. Und doch gab es den Wunsch, mich so wahrzunehmen. Denn irgendwie konnte ich auf keine andere Weise verkauft werden. Und ich erkannte, dass ich verkauft werden musste. Denn dann würde ich begehrt, und dann würde ich geliebt.“ Stattdessen wird sie meist missbraucht, fürs Geschäft und für die Geilheit.

    Und – so viel zu den bleibenden Rätseln – eines der größten Schweine in diesem historisch wie aktuell bestürzenden wahrhaftigen Buch ist: „der Präsident“.

    Das Buch Joyce Carol Oates: Blond. Übs. Uda Strätling, Sabine Hedinger, Karen Lauer; Ecco Verlag, 1024 S., 26 Euro

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