In ihrem Beziehungsleben haben sie sich nichts geschenkt: Er konnte es bis vor Kurzem keine zehn Minuten mit ihr im selben Raum aushalten, sie hat ihm regelmäßig den Tod gewünscht. Nun sitzen Marie-Theres Relin und Franz Xaver Kroetz sehr harmonisch miteinander auf der Bühne des Residenztheaters München. Es ist ihre erste Lesung aus ihrem Buch "Szenen keiner Ehe". Dem Paar ist sein Ruf vorausgeeilt. Erst verheiratet, dann geräuschvoll geschieden, dann im Jahr 2022 erstaunlicherweise gemeinsam verreist. Im Buch erzählen Kroetz und Relin unabhängig voneinander von einer Reise, die mit dem Auto nicht nur von Teneriffa zurück nach München, sondern auch tief in die Vergangenheit führt. Der Deal: Keiner weiß, was der andere schreibt. Kroetz und Relin ernten bei ihrer Lesung viele Lacher und manches mal auch Kopfschütteln für ihre schonungslose Offenheit - bis Marie-Theres Relin mit anfangs brüchiger Stimme zum allerersten Mal vor Publikum die Passage vorliest, die bundesweit für Schlagzeilen gesorgt hat und in der sie den sexuellen Missbrauch durch ihren Onkel Maximilian Schell schildert.
Im Gepäck nach Teneriffa eine veritable Schreibkrise
Das Residenztheater ist für Relin und Kroetz ein denkwürdiger Ort. Nicht nur, weil hier Stücke des Dramatikers aufgeführt wurden und Kroetz selbst inszenierte, hier hatte das Paar auch einen ersten ungewöhnlichen gemeinsamen Auftritt. Im Juli 1987 stellte sich Kroetz nach der umstrittenen Inszenierung von "Stigma" bei einer Podiumsdiskussion dem Publikum. Marie-Theres Relin hatte er dazu eingeladen, heißt es in der Programmankündigung des Residenztheaters. Nach der Diskussion sei die 20-Jährige auf die Bühne marschiert, habe sich kurz die Hand von August Everding küssen lassen und ihr Ziel angesteuert: Franz Xaver Kroetz. An diesem Abend habe ihr Kroetz ein Buch gewidmet mit den Worten: "Ich denk an Dich. Ich brauche Dich. Ich liebe Dich." 13 Tage später ist sie bei ihm eingezogen. Eine Rückkehr also. "Zur Urlesung", wie es Intendant Andreas Beck formulierte.
"Also, fang mer an!", beschließt ein bestens gelaunter Franz Xaver Kroetz, der den Bühnenauftritt sichtlich genießt. Bevor es wirklich losgehen kann, muss er erst die Lesebrille aufsetzen. Ja, ein alter Mann sei er geworden. Arthrose in Knie, Asthma, die Prostata, der Flug nach Teneriffa nur mit zwei Ibuprofen 600 bewältigbar. Im Gepäck eine veritable Schreibkrise und die Nervosität, wie es wohl werden wird mit der Ex, "die man seit fünfunddreißig Jahren kennt und von der man keine Ahnung hat", was Relin an ihrem Tisch mal kopfnickend, mal milde lächelnd kommentiert.
Kroetz zeigt Relin auf der Bühne den Stinkefinger
Kroetz nimmt sich nicht in Schutz - und Relin gar nicht. Als sie, finanziell notorisch klamm, ihre Freude darüber schildert, dass sie Kroetz den Sprit verrechnen darf, zeigt er ihr auf der Bühne den Stinkefinger, worauf Relin aber nicht weiter eingeht. Gut, für einen zartbesaiteten Umgang miteinander sind die beiden nicht bekannt. Und der 77-jährige Kroetz kokettiert gekonnt mit seinem Grantler-Image. Im Lauf des Abends bezeichnet er seine Ex als "schnarchendes Monstrum", als "fett, aber knusprig" im Badeanzug. Als er das "fett" an einer anderen Textstelle ein bisschen verschämt unterschlägt, weist Relin auf die Mogelei hin und erntet dafür ihrerseits die Sympathie des Publikums. Texte komprimiert auf der Bühne gelesen, entfalten nun mal eine intensivere Wirkung. Und vielleicht auch deshalb legt Kroetz seiner Lesepartnerin immer wieder mal beschwichtigend die Hand auf die Schulter.
Es ist ein unterhaltsamer Schlagabtausch, der von Kroetz' Schauspielkunst profitiert, aber auch von der Offenbarung seiner Verletzlichkeit und natürlich macht es großen Spaß zu hören, dass sich auch andere mit den immer gleichen, zuweilen sehr intimen Reibereien im Alltag herumschlagen, etwa die Frage wann "mein Kroetz" im Stehen pinkelt und wann nicht und Relin den Deckel morgens mit "spitzen Fingern in die gewünschte Position bringen" muss.
"Die übermächtige berühmte Künstlerfamilie im Nacken"
Und dann nimmt Marie-Theres Relin gefühlt Anlauf und liest die vier Seiten im Buch vor, die das Buch in die Schlagzeilen gebracht haben. Ihr sexueller Missbrauch durch ihren Onkel, den Oscar-Preisträger Maximilian Schell. Es ist das erste Mal, dass die 57-Jährige vor Publikum liest, wie sie als 14-Jährige bei ihrem Onkel, der im Text nicht namentlich genannt wird, übernachtete, sich irgendwann die Tür öffnete, der Onkel sich im Bademantel an ihr Bett setzte und sie schließlich durch ihn entjungfert wurde. Sie zitiert ihn mit den Worten "Wenn zwei Menschen sich lieben, dann ist es nicht weiter schlimm, dass sie sich berühren. Und wir lieben uns doch." Schonungslose Offenheit erneut, betroffene Stille im Zuschauerraum.
Die Antwort, warum sie so lange geschwiegen hat und den Missbrauch erst so viele Jahre und nach dem Tod Maximilian Schells offenbart, liefert Relins Text mit. "Der dämliche harmoniebedürftige Krebs, der in mir tobte, und die übermächtige berühmte Familie im Nacken, die mir die Luft zum Atmen nahm." Ihre Mutter Maria Schell hätte ihr niemals geglaubt. "Ich schämte mich. Das Opfer wurde zum Täter und schwieg." Immer habe sie Frauen aufgefordert, sich gegen häusliche Gewalt und sexuellen Missbrauch zu wehren und dies auch auszusprechen. Sie selbst jedoch habe geschwiegen und sich verleugnet. "Ein Fehler meines Lebens". Spontaner Applaus. Und am Schluss verbeugt sich dieses Paar, das keines ist, vor dem Publikum und hält sich an den Händen.