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Maler: Gerhard Richter wird 90: Eine deutsch-deutsche "Tellerwäscher"-Karriere

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Gerhard Richter wird 90: Eine deutsch-deutsche "Tellerwäscher"-Karriere

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    Richter 2017
    Richter 2017 Foto: Matthias Rietschel, epd

    Am 9. Februar 2022 wird er 90 Jahre alt, Gerhard Richter – neben dem 1986 verstorbenen Joseph Beuys der weltweit einflussreichste und am meisten respektierte deutsche Künstler der Nachkriegszeit. 70 Jahre dieser Spanne arbeitete er hochdiszipliniert, hochskeptisch an seiner künstlerischen Entwicklung; 60 Jahre dieser Spanne waren bestimmt von der zweifelnden, mitunter verzweifelten Suche nach einer neuen, bislang nicht abgebildeten, also auch bislang ungesehenen Bildwelt.

    Noch 1985, da war er bereits seit 14 Jahren Düsseldorfer Akademie-Professor und stand kurz vor seinem internationalen Durchbruch anhand einer deutsch-österreichisch-schweizer Ausstellung, notierte Richter: „Ich kann nichts, ich verstehe nichts, ich weiß nichts.“ Jahrzehntelang, im Grunde bis heute, da er morgens und nachmittags weiter an seinem penibel geordneten Zeichentisch in Köln sitzt, arbeitete er lediglich in der Hoffnung, dass sich ein bildnerischer Sinn wenigstens unter der Hand einstellen könnte. Dass – nicht zuletzt auch durch den gesteuerten Zufall – etwas Brauchbares, etwas Ansehnliches doch unterläuft …

    Der Maler Gerhard Richter führt den deutschen Kunstkompass an

    Dem Zweifel vor der Leinwand und dem Blatt Papier steht der ihm selbst ungeheuerliche Erfolg seiner Kunst diametral gegenüber. Gefeiert von Kunsthistorikern, Publikum und Kritik gleichermaßen, führt er seit 18 Jahren den Kunstkompass an, diese deutsche Rankingliste der Resonanz, auf die 30.000 internationale Künstler mal mehr, mal weniger stoßen. Gepunktet werden Ausstellungen, Fachrezensionen in Fachmagazinen, Museumsankäufe, Auszeichnungen – nicht jedoch Verkaufspreise und Auktionserlöse.

    Dass aber auch diesbezüglich Richter unter den lebenden Künstlern – zwar nicht mehr an der Spitze, jedoch in der Breite – führend bleibt, verhüllt geradezu, unter welchen Bedingungen er 1961, nach seiner DDR-Flucht, von vorn begann in der Bundesrepublik. Wohl war er nach seinem Studium an der Dresdner Kunsthochschule bereits ein diplomierter Wandmaler, der durch sein Talent auch Aufbauklassen und das westliche Ausland zu Studienzwecken besuchen durfte, aber die erreichten Fähigkeiten waren kaum die, mit denen Richter später in der Bundesrepublik künstlerisch weiterkommen konnte und wollte – einmal ganz abgesehen von den kargen wirtschaftlichen Verhältnissen nach seiner Flucht.

    Nach der Flucht aus der DDR musste Gerhard Richter von vorn beginnen

    Mittlerweile ist anhand von Dokumenten in dem schmalen Bändchen „Es ist, wie es ist“ von Dietmar Elger (Gerhard Richter Archiv Dresden) offen gelegt, dass Richter 1961 künstlerisch wie wirtschaftlich bei null begann (Verlag der Buchhandlung Walther König, 29,80 Euro). Mehr als Handgepäck hatten er und seine Frau Marianne („Ema“) nicht dabei, als sie im Frühjahr 1961 mit der S-Bahn von Ost- nach Westberlin flohen. Was folgte, ist mithin auch eine deutsch-deutsche „Tellerwäscher“-Historie.

    Zunächst findet das junge Paar mit dem „Begrüßungsgeld“ von 350 Mark Unterschlupf in Sanderbusch nahe Wilhelmshaven bei den bereits 1957 übergesiedelten Eltern Mariannes. Eine Woche lang lebt Richter 1961 aber auch in einem Aufnahmelager bei Gießen, um die Formalitäten der Umsiedlung voranzutreiben. Wenig später ergeben sich Perspektiven in Düsseldorf durch einen ehemaligen Dresdner Studienkollegen. Die städtische Künstlerhilfe erwirbt für 500 DM ein Stillleben, was auch als eine soziale Unterstützung zu betrachten war.

    Mit 350 DM Flüchtlingsbeihilfe beginnt Gerhard Richter in Düsseldorf

    Im Mai dann wird Richter in der Düsseldorfer Akademie aufgenommen, Klasse Ferdinand Macketanz (Richter seinerzeit: „ein harmloser Realist“). Und im Juni kann er in ein eigenes Zimmer umziehen. 350 DM monatlich stehen ihm als Flüchtlingsbeihilfe für zwei Jahre zur Verfügung. Anfang 1962 wiederum kann das Ehepaar Richter ein Appartement Zimmer/Küche/Bad in Düsseldorf beziehen. Marianne Richter näht Kinderröcke zur Unterstützung der Haushaltskasse, Gerhard, der sich damals noch Gerd nannte, übernimmt kleine Nebentätigkeiten: Verkauf von Künstlerutensilien an der Akademie, Bierthekenverkauf bei Künstlerfesten, Bemalung von Düsseldorfer Karnevalswagen.

    Künstlerisch interessanter bleibt, was Richter an Briefen und Postkarten in seine alte Heimat schickt – gerichtet einerseits an seinen ehemaligen Professor Heinz Lohmar, andererseits an ehemalige Studienkollegen. Gegenüber Lohmar verteidigt Richter seine Republikflucht unter anderem mit der Aussage: „Wenn ich sage, daß mir die künstlerischen Bestrebungen, das ganze kulturelle ,Klima‘ des Westens mehr bieten können, meiner Art zu sein und zu arbeiten besser und stimmiger entsprechen als das des Ostens, so will ich damit die Hauptursache angedeutet haben.“

    Die erste Ausstellung Gerhard Richters findet 1962 in Fulda statt

    Und gegenüber einem ehemaligen Kommilitonen klagte er schon nach wenigen Tagen in der Akademie Düsseldorf: „Die Studenten (zumindest die Realisten bei Macketanz) sind faule, dumme Burschen, die kaum vor 11 kommen u. schlechte Bilder malen, u. pfeifen beim malen. Heute habe ich mir das Pfeifen verbeten wenn ich arbeite. Es wird nicht lang dauern u. mich kann keiner mehr leiden.“ Richter zieht aus der Arbeitsatmosphäre auch die Konsequenz und wechselt 1962 in die Klasse von Professor K. O. Götz („Der Kontakt mit meinem neuen ,Chef‘ ist gut, ,wir erfreuen einander‘“).

    Was Richter 1961/1962 bildnerisch umtreibt, war schon damals zweigeteilt: einerseits Gegenständlich/Figuratives, andererseits Abstraktes in Form von Tachismus. Auf einem Besuch der Documenta 1959 hatte er Alberto Giacometti und Germaine Richier ebenso schätzen gelernt wie Jean Fautrier. Nun malt er lesende Frauen – und „Flecke“. Und im Herbst 1962 kann er zusammen mit Manfred Kuttner erstmals ausstellen – in Fulda, organisiert von seinem dort geborenen Düsseldorfer Kommilitonen Franz Erhard Walther. Richter zeigt Gemälde, Zeichnungen und mit Gips und Lack präparierte Kleidungsstücke. Brieflich zieht er Bilanz mit den Worten: „Meine Ausstellung in Fulda war ganz nett. Nichts verkauft, war auch nicht zu erwarten, es galt ja nur mal zu probieren...“ sowie „Kritiken günstig, weil zum Teil böse u. aufgebracht.“

    1964 schreibt Gerhard Richter: "Die Zeit ist gerade günstig für mich."

    Knapp zwei Jahre sollte es dauern, bis Richter sich künstlerisch fand. 1962 noch malte er den „Tisch“, seine Nummer 1 im offiziellen Werkverzeichnis. Und im Sommer 1963 teilt er nach Dresden mit: „Ich male jetzt vorwiegend Fotos ab (aus Zeitschriften oder auch private).“ 1964 schließlich, nach Ausstellungen mit Verkäufen, schreibt er nach Dresden: „Die Zeit ist gerade günstig für mich.“ Diese Einschätzung kommentiert Biograf Dietmar Elger in seiner Dokumentation der ersten beiden Jahre Richters im Westen mit dem nachfolgenden Satz: „Sie ist es für ihn bis heute geblieben.“

    Drei von Gerhard Richter gestaltete Chorfenster der Abteikirche Tholey.
    Drei von Gerhard Richter gestaltete Chorfenster der Abteikirche Tholey. Foto: Odi Abl, dpa

    Richter mag nicht mehr reisen, nicht einmal in seine alte Heimat. Seine Chorfenster in der saarländischen Abtei Tholey hat er original bis heute nicht gesehen. Aber das muss nichts heißen. Sein einstiger Lehrer K. O. Götz wurde arbeitsam 103 Jahre alt, und Kollege Pierre Soulages hörte auch mit 100 nicht zu arbeiten auf. Jetzt ist er 102.

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