Es war kein Ton zu vernehmen. Valery Gergiev reagierte nicht bis Montagabend – was im Übrigen auch nicht zu erwarten gewesen war. Und so trat am Dienstagmorgen tatsächlich in Kraft, was Münchens Oberbürgermeister Dieter Reiter am vergangenen Freitag noch – Bedenkzeit gebend – in Frage gestellt hatte. Der russische Dirigent ist ab sofort nicht mehr künstlerischer Chef der Münchner Philharmoniker. Er wird auf nicht absehbare Zeit keine Konzerte mit dem städtischen Orchester mehr geben. Weil er jenes Münchner Ultimatum verstreichen ließ, nach dem er sich „eindeutig und unmissverständlich von dem brutalen Angriffskrieg“ distanzieren sollte, den Putin gegen die Ukraine führt.
Gergiev schweigt zu Putins Angriff auf die Ukraine
Gergiev aber, in München seit 2015 Chef, blieb stumm, wodurch er nun sein festes Standbein in München, in der neuen Isarphilharmonie, verliert – nach soundsoviel anderen Ausladungen in Westeuropa und den USA. Am Montag und Dienstag strichen die Luzerner Festspiele, die Metropolitan Opera von New York, die Pariser Philharmonie, die Elbphilharmonie Hamburg und das Festspielhaus Baden-Baden die anstehenden Gastspiele des 68-jährigen Pultstars; zuvor schon waren unter anderem die New Yorker Carnegie Hall, das Rotterdam Philharmonisch Orkest und die Scala Mailand, wo Gergijew bis vor wenigen Tagen Tschaikowskys „Pique Dame“ betreute, zum Ende mit ihm gekommen. Auch seine deutsche Konzertagentur hat sich mittlerweile von seiner Person getrennt.
Es ist eine breite Front, die sich hier aufbaut – nicht nur gegen Valery Gergiev, sondern auch gegen andere unter den russischen Musikern und Musikerinnen, die über Jahre hinweg keinen Zweifel daran ließen, dass sie sich als künstlerische Repräsentanten Russlands im Ausland fühlen, zweitens Putins Militäreinsätze unterstützen und drittens sich in der Macht des Kreml-Herrschers sonnen. Bei Gergiev stieß vor allem seine Fürsprache für Putins Krim-Annexion 2014 auf, dazu sein Propaganda-Auftritt 2016 im syrischen Palmyra – mal ganz abgesehen von seiner Verteidigung des russischen Homosexuellen-Erlasses. Und nun kommt die Ukraine-Invasion hinzu, von der sich Gergiev offensichtlich nicht distanzieren möchte.
Valery Gergiev wird sich künftig auf das Mariinski-Theater konzentrieren
Sein Hauptbetätigungsfeld wird künftig wohl das Mariinski-Theater in Petersburg mit seinen Zweigstellen bleiben. So heikel es grundsätzlich bleibt, Engagements von der politischen Couleur eines Kandidaten abhängig zu machen, diese abzufragen: Im Falle Gergievs war es wohl gar nicht anders möglich, als sich in Linie und Reihe auch von ihm zu trennen, da doch gleichzeitig die gesamte wirtschaftliche und sportliche Entourage Putins unter Sanktionen gestellt wird – auch um politische Debatten im Kreml zu befördern.
Die Stadt München steht in dieser Lage überdies in ganz besonderem Licht: Kiew, das Hauptziel Putins, ist ihre Partnerkommune. Selbst wenn die Frage politischer Couleur heikel ist: Hätte Dieter Reiter anders gehandelt, wäre ihm Unverständnis in weit größerem Maße entgegengeschlagen.
Auch die Wiener Philharmoniker nehmen Abstand von Gergiev
Dass es in diesem europaweiten Verfahren aber auch bremsende Stimmen gab, lässt sich an den Wiener Philharmonikern festmachen, deren Vorstand am vergangenen Donnerstag noch erklärt hatte: „Die Kultur darf nicht zum Spielball von politischen Auseinandersetzungen werden.“ Gleichwohl werden die Wiener nun nicht mit Gergiev in die USA reisen. Und auch für München durfte man vergangenen Woche noch schwer unterschiedliche Ansichten in der Frage Gergiev vermuten: Jene Pressemitteilung der Philharmoniker, mit der sie über Reiters Ultimatum informierten, begann mit den Worten: „Für die Münchner Philharmoniker hat Oberbürgermeister Dieter Reiter heute folgende Entscheidung getroffen...“ Heißt im Klartext: Reiter trägt die Verantwortung.
Dass die Philharmoniker mit Corona und ohne Chef nun mehrfach belastet sind, ist klar. Wie groß aber ist eigentlich der künstlerische Verlust? Ohne nachtreten zu wollen: Er hält sich in Grenzen. Selbstverständlich konnte Gergiev, insbesondere im russischen Repertoire, Sternstunden bereiten. Aber er war jettend viel, sehr viel unterwegs, dirigierte manisch überall – aber war kein großer Freund vorab notwendiger Proben. Die Eröffnung der Isar-Philharmonie im letzten Oktober geriet glänzend, sie war geprobt und das hörte man; sein Bayreuther „Tannhäuser“ 2019 war unzureichend geprobt – und das hörte man auch. Gergiev: aufgrund der Nachfrage zu oft ein Va-banque-Spiel.
Wie nahe ist Anna Netrebkos Verhältnis zu Putin?
Auch Anna Netrebko, mittlerweile Österreicherin und in Wien lebend, spürt jetzt den Ernst der Lage. Bei ihr ist das Problem: 2014 hielt sie im Osten der Ukraine mit einem Separatistenführer im wortwörtlichen Sinne die Flagge für „Neurussland“ und ein Propaganda-Foto hoch. Und 2021 feierte sie mit Putin im Kreml anlässlich ihres 50. Geburtstags ein rauschendes Fest. Das fällt ihr nun auf die Füße – umso mehr, als sie zuletzt verlauten ließ: „Ich bin keine politische Person.“ Gleichzeitig erklärte sie ohne Ross und Reiter zu benennen: „Ich möchte, dass dieser Krieg aufhört und die Menschen in Frieden leben können. Das erhoffe ich mir und dafür bete ich.“ Man darf davon ausgehen, dass Anna Netrebko derzeit so manche Post erhält, in der formuliert wird: „Liebe Frau Netrebko, wenn Sie möchten, dass dieser Krieg aufhört, dann sprechen Sie doch mal mit Herrn Putin.“
Anna Netrebko sollte heute eigentlich in der Hamburger Elbphilharmonie singen – aber kündigte gestern dann über den Veranstalter River Concerts ihren Rückzug von der Bühne an: „Nach reiflicher Überlegung habe ich die äußerst schwierige Entscheidung getroffen, mich bis auf Weiteres aus dem Konzertleben zurückzuziehen. Es ist nicht die richtige Zeit für mich aufzutreten und zu musizieren.“
Alle Informationen zur Eskalation erfahren Sie jederzeit in unserem Live-Blog zum Krieg in der Ukraine.