Wenn die Band Deichkind sich etwas auf die Fahne schreibt, dann wörtlich: „Teilen hier alle Anwesenden die Meinung, dass ‚Könnt ihr noch?‘ im aktuellen Zustand der Welt eine gute Frage ist?“ Steht da, wie ein Wort zum Sonntag, auf eine Flagge gedruckt. Die riesig über dem Meer der Münchner Olympiahalle schwebt. Denn ein Holzfass schwimmt da auf hoher See – nur dass die See aus einer dichten Menschenwelle besteht, Fans mit winkenden, wackelnden Händen, und das Fass wie ein rollender Karnevalswagen durch die Wogen schippert. Zwei Männer von Deichkind rappen und hopsen im Fass, einer schwenkt rittlings obenauf die Fahne.
Nach einem Vierteljahrhundert Band-Geschichte surfen sie durch die Hallen auf ihrer – laut eigenem Unken – „vorerst letzten“, großen Hallen-Tournee: die Elektro-Hip-Hopper von Deichkind. In München entwickelt sich der Abend vom Männerballett zur Öko-Rap-Operette und eskaliert dann zum gigantomanischen Konfetti-Kindergeburtstag für die ganze Familie.
„Könnt ihr noch?“, fragen Deichkind in der Münchner Olympiahalle
„Könnt ihr noch?“, das fragt die rappende Männer-Bande mit ihrem neusten Song und blickt halb ratlos auf den Planeten. Krieg, Klima, Krise, kollabieren Sie schon? Asthmatisch presst und hackt dazu eine Roboterstimme den Songtext heraus, als hätten die Elektro-Pioniere von Kraftwerk persönlich am Regler gedreht: „Thera-Band und Fitness-Drinks, Awareness-Teams und Chicken-Wings ...“, ja geht‘s noch? „Abrissbirne Wirklichkeit.“
Aber bevor man Deichkinds Musik bestaunen kann, muss man erst einmal die Live-Show wirken lassen. Weil man von der ersten Minute an leuchtende Bauklötze staunt: Da tanzen Typen in aus Plastik getackerten Astronauten-Kostümen über die Bühne. Setzen sich digital blinkende, geometrische Tetraeder-Helme auf den Kopf. Vermummen sich in mit Text bedruckten Trainingsanzügen und Hauben, halb anonymisiert durch Sonnenbrillen. Erst wackeln sie zu dritt im Takt, dann zu fünft, zu siebt bis siebzehnt. Doppel-, Dreifach-, Siebenfachgänger in Reihe, die zum Männer-Ausdruckstanz ihre Beine und Arme strecken. Aber die Chef-Deichkinder, das sind heute, nach mehreren Neu- und Umbesetzungen, tragischen Abschieden und frischen Neuaufnahmen: Bandgründer Philipp Grütering alias Kryptik Joe, Sebastian Dürre alias Porky und Henning Besser alias La Perla.
Tech-Rap, digitale Bühnenshow: Deichkind bietet ein Gesamtkunstwerk in München
Hit-Zeilen aus Deichkind-Urzeiten rappen sie noch immer gerne, auch in München: „Nicke mit dem Beat!“, alte Hamburger Schule, Band-Gründungsjahr 1997. „Vier Nordlichter geben sich hier heute die Ehre. Also werft eure Hände in die Atmosphäre“. Aber dann fiepst und gurgelt es aus der digitalen Konservenbüchse. Nordlichter, Deichkinder? Tech-Rapper und Technik-Nerds, in Sachen Fortschritt und Elektronisierung des Raps war diese Band Vorreiter. Das gilt auch für die Bühnen-Show: Wie Pyramiden geistern sechs, sieben Dreiecks-Leinwände über die Fläche. Songtextfetzen blinken auf der Oberfläche, Gitternetze oder auch Farbspritzer, wie von Jackson Pollock gesprenkelt. Hat sich die Band teils selbst gebaut und patentieren lassen, diese schleichenden, ferngesteuerten Bühnenteile.
Und dann rappen die Jungs, wie passend, über die Entfremdung von Mensch und Wildnis. Mann verliert sich „,In der Natur“, zu feinen Zeilen wie „Kein Konto und kein Gott, das ist nicht meine Welt. Hier hat keiner auf dich Bock und es regnet in dein Zelt.“ Sie texten über die verkorkste Vollendung des Planeten durch die Menschheit, rappen „Die Welt ist fertig“ und meinen das eindeutig doppeldeutig – Schöpfung bis zur Erschöpfung. Der Chef Kryptik Joe schleppt dazu ein Mega-Riesen-Smartphone, mit Giga-Extralang-Selfiestick auf die Bühne. Kurzes Erinnerungsfoto mit der Menge. Ach ja, die Masse! Zu diesem Zeitpunkt blubbert, tanzt, brodelt, wippt das Meer schon, bis der Moshpit kreiselt. Publikumsstruktur: familiär alterslos, von Grundschule bis knapp vor Rente, herzlich feierwillig in Summe.
„Kids in meinem Alter“: Deichkind rappt 2024 neue Songs in der Olympiahalle
Teile der Fangemeinde werden ganz langsam, nach acht Alben in 27 Jahren, auch alt mit dieser Band. Menschen der Generation Kurz-nach-Boomer, das sind für Kryptik Joe „Kids in meinem Alter“. In diesem Song verwurstet er in frei drehenden Assoziationsketten und Wortkapriolen nicht nur Friedrich Merz und die CDU, sondern warnt digitale Spätzünder auch vor „gefährlichem Halbgoogeln“. Und wer sich dann noch um Weltlage, Wohlstand und Geldfluss sorgt, dem hilft eine der neusten Deichkind-Nummern mit einem Tipp: „Ich drucke Geld, für die ganze Welt.“ Liebesgrüße an die EZB.
Die krachigsten Weltfrust-Blitzableiter-Songs finden sich aber immer noch unter den Deichkind-Klassikern: Die größten Hits landeten sie ab dem Album „Befehl von ganz unten“ von 2012. Zum gehämmerten „Bück dich hoch“, einer Karrieristen-Hymne für Duckmäuser und Diener, starten sieben Deichkind-Männer ein Ballett auf Bürostühlen. Sie kreiseln, surfen, bis die sieben Buchstaben auf der Rückseite ihrer Stühle in Reihenfolge stehen: „F“, „U“, „C“, „K“, „A“, „F“, „D“. Politbotschaft des Abends: Habt euch lieber lieb, bleibt weltoffen demokratisch. Dann wummert der Techno-Bass von „Arbeit nervt“ durch die Halle und betrommelt alle Magengruben. Ein Song aus der Hölle des Ich-hab-kein‘-Bock: Ist das schon Kapitalismuskritik oder noch Trotzphase?
„Krawall und Remmidemmi“ darf beim Tour-Konzert in München nicht fehlen
Das Meer der Olympiahalle winkt mit Hip-Hop-Winkekatze-Händen zum Takt, die Zeit ist reif für ein bisschen „Krawall und Remmidemmi“ – Kellerparty-Hit seit 2006: „Deine Eltern sind auf einem Tennisturnier. Du machst eine Party, wie nett von dir“, rappen sie. „Deine Mutter hat gesagt: Tragt nicht so viel Dreck rein. Auf dem Foto in der Küche sieht sie aus wie Katja Ebstein.“ In solchen Deichkind-Knüllern steckt immer auch ein bisschen Loriot, eine Spießbürger-Selbstironie in gereimter Textverpackung. Und damit ist die Torte angeschnitten, es regnet Luftschlangen, auf der Bühne tanzt ein Misthäufchen-Emoji in Maskottchen-Größe nebst schwingender Abrissbirne, Roboter-Männer tanzen Polonäse und auf dem Menschenmeer schwimmt ein circa 30-Mann-Schlauchboot mit einem hopsenden Rapper beladen. Es ist Kindergeburtstag in der Olympiahalle. Deichkind? Sie können noch!
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