Wie eine große Frage, eine stille Verheißung liegt an diesem Montagabend das Riesenoval des Olympiastadions im Dunkel: Wird er der Nächste sein?
Nebenan die Olympiahalle jedenfalls ist hoffnungslos ausverkauft, obwohl auch alle Ränge hinter der halb offenen Bühne freigegeben wurden. Hoffnungslos für all die jungen Frauen, die da draußen noch ihre Pappschilder in den Abendhimmel recken auf der Suche nach Tickets; verzweifelt für einige, die im sehnsuchtsüberhitzten Markt auf betrügerische Schwarzhändler reingefallen sind und beim Versuch, den Hort des Glücks zu betreten, mit Fälschungen abgewiesen werden, in Tränen, untröstlich; und höchstens bittersüß für die Hunderten, die sich direkt um die Halle auf Wiesen und Plätzen versammeln, um gemeinsam doch ein bisschen mitzufeiern, mitzusingen, ein bisschen seine Präsenz mit einzuatmen, sekundärbedröhnt zu werden, so viele Eindrücke wie möglich zu erhaschen von da drinnen, wo nun gut 12.000 Glückliche in einem Ritual Queens „Bohemian Rhadsody“ als letztes Lied vom Band mitschmettern, bevor er auf die Bühne tritt.
Der Alles-richtig-Macher: Was Harry Styles seinen Landsleuten voraus hat
Es ist die Münchner Station des nächsten weltweiten Triumphzugs von Harry Styles, endlich, durch Covid um zwei Jahre verzögert und darum nun nicht mehr zu seinem zweiten, sondern bereits zum dritten Soloalbum, „Harry’s House“, das ihm samt dem Hit „As It Was“ erstmals doppelt und flächendeckend die Hitparaden-Spitze bescherte, auch in den USA und Deutschland. Harry, 28, Sohn einer alleinerziehenden Mutter aus Mittelengland, Liebling der Generation Regenbogen – wird er also der Nächste sein?
Robbie Williams, Chris Martin mit Coldplay und Ed Sheeran – das sind die Landsmänner, die zuletzt den Sprung hinüber ins Stadion geschafft haben und damit so etwas wie den Nachweis, es endgültig unter die Riege der Superstars geschafft zu haben. Mit ihnen und deren Weg verbindet Harry bereits so manches. Zuallererst natürlich die Ähnlichkeit zu: der Aufstieg als Teenager mit einer Boygroup, One Direction statt Take That. Und doch trennt gerade diese beiden auch das Wesentlichste: Denn während Williams immer auch eine Dosis Wahn und potenziell offene Hose bedeutet, ein bisschen Rock ’n’ Roll-Drama und -Diventum zwischen Selbstzerfleischung und Hybris, ist Styles einfach der Alles-richtig-Macher.
Harry Styles kokettiert beim Konzert in München lieber mit Männern
Im Vergleich zu seiner Solo-Premiere hier 2018 zeigt sich Harry zwar in den 90 Minuten nun schon als koketterer Entertainer, spielt ein bisschen mit dem sehr viel und sehr laut kreischenden Publikum, greift sich einzeln schon mal, nein, eben keines der tausenden begeisterungstaumelnden Mädchen, sondern zwei mitfeiernde Väter und einen jungen Mann aus der Masse heraus, um ein bisschen zu spielen – aber er bleibt bei all dem, wie er auch sonst scheint: wahnsinnig nett, charmant und kontrolliert.
Aber das ist ja auch die „Love on Tour“, inbrünstig wird hier gemeinsam „Treat People With Kindness“, eine Hymne an die Freundlichkeit, gesungen. Und das Kreischen schwillt eben nicht nur ohrenbetäubend bei jedem Song an, den Harry anstimmt, sei es das eingestreute One-Direction-Stück „What Makes You Beautiful“, seien es innigere Nummern, vorgetragen an der Spitze des Bühnenstegs wie „Matilda“ und „Boyfriends“. Das Kreischen erreicht auch Maximalpegel, als Harry sich eine der zahllosen Regenbogen-Fahnen aus dem Publikum angelt und mit ihr posiert. Denn das ist Programm und Identität hier: „Sei, wer auch immer du sein magst“, ermutigt er, dessen sechsköpfige Band geradezu idealtypisch diversifiziert ist, denn auch sein Publikum. Und kokettiert auch selbst mal mit der Frage aus dem Publikum, wie es denn um seine Boyfriends stehe, ohne freilich zu antworten.
Harry Styles trifft auf Regenbogenlichter wie bei Coldplay – bloß in klein
Aber auch wenn die koordiniert regenbogenfarbenen Lichter im Publikum bloß wie eine Anverwandlung einer um vieles mächtigeren Coldplay-Inszenierung wirken: Genau damit ist dieser Harry Styles selbst der passende Star in dieser Zeit. War ja auch der erste Mann auf dem Titel der „Vogue“ und zwar im Kleid; zeigt sich in seiner auch nicht gerade erfolglosen Zusatzbeschäftigung als Schauspieler in der Rolle eines schwulen Polizisten in „My Policeman“ – wenn er auch seit einem anderen Dreh mit der zehn Jahre älteren Regisseurin Olivia Wilde ein Pärchen bildet, Kosename „WildeStyle“. Und nichts daran wirkt wie bloß zielgruppengemäße Image-Arbeit. Harry scheint einfach selbst Ausdruck dieses Zeitgeists zu sein, non-binär nagellackiert wie Thimothée Chalamet, auch mal beste Freundin wie Billie Eilish.
Ist er also, diesmal den sehr fitten Körper in fliederpinker Lederhose und fliederpink-weiß-gestreiftem T-Shirt gewandet, nicht geradezu gemacht dafür, der Nächste zu sein im Superstar-Format, so professionell und versiert wie er auch auf der Bühne im Umgang mit den Massen wirkt, dabei so sehr auf die Musik selbst, so wenig auf Effektbrimborium setzend wie Ed Sheeran?
Die Musik ist wie Harry Styles: nett, charmant, stimmig - zu brav?
Die noch größte Ungewissheit an dieser großen Frage, dieser stillen Verheißung ist das Wesentliche, das eben in Ed aufscheint: das Songwriting, die Musik. Keine Frage zwar, dass der Zugabenblock mit seiner Solo-Durchbruchshymne „Sign of the Times“, dem Grammy-prämierten „Watermelon Sugar“, dem rockenden Fan-Liebling „Medicine“, mit „As it Was“ und „Kiwi“ absolut stadiontauglich wäre. Und keine Frage auch, dass die, die Harry lieben wirklich jedes einzelne seiner Lieder feiern.
Aber selbst in den für ein Superstar-Konzert schon ziemlich knappen 90 Minuten an diesem im Ablauf bei jeder Tourstation identischen Abend ist die Dichte der darüber hinaus popviralen Stücke längst nicht im Bereich eines Robbie Williams (dank Guy Chambers), von Coldplay oder Ed Sheeran. „Daylight“ oder „Keep Driving“ etwa, sogar der Schwung zum Finale vor den Zugaben hin mit „Late Night Talking“ und auch dem Justin-Bieber-haften „Love of my Life“ – das ist halt nett und charmant, wurzelnd in den 90ern, mit mal ein bisschen Disco, mal mehr Rock, mal Ballade. Nicht besonders aufregend, eigentlich überhaupt nicht besonders.
Für solche Fan-Liebes-Abende, in denen auf begrenztem Raum nicht genug Platz für all die Liebe ist, wie an diesem Montag, wird es sicher weiter reichen, wenn Harry, wie nun versprochen, nicht erst nach vier Jahren wiederkommt. In den USA füllt er Hallen bereits in Serien, den New Yorker Madison Square Garden in New York allein an 15 Terminen! Aber das Riesenoval dieses Stadions in München, in dem man sich etwa „Sign of the Times“ wie einst Robbies „Angels“ nur allzu gut vorstellen mag: Ob es weiter dunkel und still bleiben wird? Vielleicht würde Harry Styles es gerade damit richtig machen – und, sensationalle für einen Popstar seine Grenzen kennen.