Am Ende bleibt ein zwiespältiges Gefühl. Denn dieser Samstagabend im Münchner Olympiastadion könnte zugleich triumphale Premiere und trauriger Abschied gewesen sein. Gegen dieses drohende Doppel-Pathos aber helfen ausgerechnet bei den Toten Hosen immerhin Späßchen, die gerade dese zweieinviertelstündige Visite auf ihrer Jubiläumstour nahlegen.
Denn sollten an so UV-intensiven Tagen mit Temperaturen von 28 Grad noch bei Konzertende um 23 Uhr betagtere Herrschaften nicht Anstrengungen im Freien meiden, vor allem unbedeckte? Überlässt Campino das einst für ihn obligatorische Stagediving darum nun einem Fan, bleibt darum bei seinem sehr bald durchgeschwitzten Hemd nach der Öffnung eines Knopfes nach dem anderen der letzte diesmal ungeöffnet?
Happy End für Campino und den FC Bayern mit Opel und Sadio Mané?
Oder auch: Findet hier eine komplexe Beziehung doch noch schicksalshaft zum Happy End zwischen dem Sänger und dem FC Bayern München, der ja gerade in dieser Arena zur deutschen Fußballvormacht wurde? Obwohl der Hosen-Schmähsong auf den Klub im passenden Stadion-Gröl-Voting nämlich zunächst dem natürlich filigraneren „Zehn kleine Jägermeister“ unterliegt, folgt er, von den Fans lautstark gefordert, dann doch noch. Und dann reckt in die Zeilen über den „Scheißverein“ einer im Publikum ein altes FCB-Trikot in die Höhe mit dem Schriftzug des damaligen Sponsors – und wie sang Campino titelgebend auf dem Debütalbum der Band: „Wir sind die Jungs von der Opel-Gang.“ Hier kommt alles zusammen! Und ganz am Ende, bevor zur Hymne seines Herzklubs, des Liverpool FC, alles im „You’ll never walk alone“-Taumel versinkt, gratuliert er, „Nie zu den Bayern gehen!“-Campino, den Münchner auch noch zum Millionentransfer von LFC-Stürmerstar Sadio Mané.
Und endlich gäbe es auch ein Ergebnis in der ewigen Partie zwischen den Toten Hosen und den Ärzten, die zwei Tage zuvor in ebendieser Arena nach ebenso 40 Jahren Bandgeschichte Station gemacht haben, es lautet: rund 30.000 zu 20.000. Die Düsseldorfer jedenfalls haben mehr Publikum in München als es die Berliner hatten (wobei beides freilich weit unter Gesamtkapzität von über 70.000 liegt). „Auswärtsspiel“ gewonnen.
Aber den besten und bedeutsamsten Witz an diesem stimmungsvollen und anekdotenreichen Abend liefert die Geschichte der Band selbst. Als Campino nämlich nach knapp zwei Stunden einen festen Bestandteil der Zugaben auf dieser Tour mit „Wort zum Sonntag“ ankündigt, ergänzt er, dass dies eigentlich das letzte Mal für den 1985 entstandenen Song sein müsse. Aber nicht etwa, weil er das Predigen fortan einstellen will – natürlich spricht er auch hier im Programm irgendwann vom Ukraine-Krieg, der die Kostbarkeit „unserer Freiheit“ und dabei von solchen Konzerten vor Augen führe, für die man zu kämpfen bereit sein müsse; und irgendwann leuchtet unter dem in Ukraine-Farben angestrahlten Fernsehturm im Olympiapark auf der Bühne das klassische Hosen-Logo passend zum Christopher-Street-Day in Regenbogenfarben. Nein, vielmehr weil es im Text des Songs heißt: „Ich bin noch keine 60, und ich bin auch nicht nah dran.“ Und an diesem Mittwoch eben, noch vor dem nächsten Konzert, erreicht Andreas Frege alias Campino ebendiese Schwelle. Was freilich zeigt, wie unvorstellbar das, was die Band erreicht hat, damals für sie war.
Campino mit ein bisschen Patriotismus und Kampf für die Freiheit
Was aber auch zu weiteren Querverbindungen führt. Denn der Text des Songs hat ja mindestens noch zwei schöne Nuancen. Denn zum einen beginnt er mit der Zeile „Früher war alles besser …“ Und mancher alte Punkrock-Fan mag das ja denken, wenn er an diesem Abend Songs wie „Liebeslied“, „Hier kommt Alex“ oder „1000 gute Gründe“ hört im Vergleich zum späteren Stadionhymnen–Pathos samt Kuddels ewigem „Woohoooo“ – aber natürlich werden „Tage wie diese“, „Alles aus Liebe“ und „Steh auf, wenn du am Boden liegst“ von der Menge frenetisch gefeiert. Das feinere Früher-gegen-Heute entsteht vielmehr durch den inhaltlichen Kontrast. Denn damals traten die Hosen als linke Renegatentruppe mit Außenseiter- und Widerstandsgestus auf – heute aber sagt Campino im Anschluss an das jeden Patriotismus verpönenden „1000 gute Gründe“: dass heute im Vergleich zu den „verschmockten 80ern mit all den Alt-Nazis“ doch einiges besser geworden sei, und dass „wir ein kleines bisschen stolz auf unser Land“ schon sein dürften, das nun doch zum Stabilitätsanker in Europa geworden sei. Nicht nur Deutschland hat sich verändert …
Und zum anderen folgt in „Wort zum Sonntag“ auf den Hinweis auf unendlich weit entfernt scheinende 60: „Und erst dann möchte ich erzählen, was früher einmal war …“ Tatsächlich hat Campino an der Spitze der Kuddel-Andi-Breiti-Vom-Band, die immer nach authentischer Arbeit und nie nach Routine aussieht, reichlich schöne Erzählungen von früher mitgebracht, passend zum Auftrittsort. Da erinnert er sich zum Beispiel an die Urlaubsfahrten nach Bayern mit dem wald- und wildbegeisterten Vater, für den er dann das (ganz entgegen Borchert) sentimentale „Draußen vor der Tür“ singt. Und Campino erinnert auch an den ersten Auftritt in München im Jahr 1983, in einem Jugendzentrum in Erding, in dem die Band damals auch habe übernachten dürfen, aber irgendwann feststellen musste, dazu dort eingeschlossen worden zu sein – und sich darum in den frühen Morgenstunden mit aneinandergeknoteten Bettlaken aus den Festen in die Freiheit abseilte. Inzwischen, so rechnet der Sänger dann auch noch vor, seien es 32 Konzerte der Tote Hosen geworden. Ob es noch weitere gegen wird?
„Wer weiß, wann wir uns wiedersehen werden“ – solcherlei nämlich sagt Campino an diesem Abend auch immer wieder zu einem Publikum, das vom ersten Lied an bis in die letzten Reihen der einzig zusätzlich zur Arena besetzten Haupttribüne vor Begeisterung steht. Gleichzeitig ist es ja das erste Mal, dass die Hosen überhaupt dieses Riesenoval hier mit einem eigenen Konzert bespielen (nur im Rahmen von bei Rock im Park 1996 waren sie schon mal da) – und es ist ein Triumph. Zugleich Premiere und Abschied also? Eigentlich schwer vorstellbar, wenn man etwa den Gesichtausdruck von Kuddel sieht, überspült vom reinen Glücksgefühl, als die Arena erstmals tobt an diesem Abend, da dauert das Konzert noch keine Viertelstunde, alle singen wie eine Beschwörung: „Und immer wieder / Sind es dieselben Lieder / Die sich anfühlen / Als würde die Zeit stillstehen …“ Tut sie bloß nicht. Und natürlich kann Campino von jetzt an auch sein „Wort zum Sonntag“ auf 70 umdichten. Aber nicht von ungefähr hat der im Gespräch mit unserer Redaktion ja kürzlich versichert, dass er sich in zehn Jahren nicht mehr mit den Hosen auf der Bühne sehe. Aber ehrlich, auch wenn das Leben oft anders spielt: Ein bewusstes Abschiednehmen, eine betont letzte Tour, das wäre schon schöner.