"Sie hätten es wissen müssen"? Sexualisierte Gewalt gegen Frauen ist nicht normal

15.06.2023

Die Debatte um Rammstein-Sänger Till Lindemann offenbart tief verankerte, machistische Denkmuster. Denn noch immer werden sexistische Übergriffe bagatellisiert.

Mehrere Frauen werfen dem Rammstein-Sänger Till Lindemann Machtmissbrauch und sexuelle Übergriffe vor. Noch gilt die Unschuldsvermutung, doch die Debatte offenbart ein Problem, das über den Fall hinausgeht: die Annahme, dass sexualisierte Gewalt gegen Frauen normal sei. 

Auf die Frage, wie es sein kann, dass weibliche Fans offenbar systematisch für Sex gecastet wurden, heißt es schnell: Sie hätten wissen müssen, worauf sie sich einlassen. Zwischen Rockstar und Fan würden leicht mal Grenzen überschritten. Offenbar fällt auch die Vorstellung schwer, dass Konzertbesucherinnen beim Meet-and-Greet einfach nur ihre Vorbilder treffen wollen, ohne als Sexobjekte ausgenutzt zu werden. 

Im Netz werden die Frauen belächelt, beschimpft und selbst dafür verantwortlich gemacht. Dahinter steckt der perfide wie gängige Mechanismus der Täter-Opfer-Umkehr, also das alte Rock-zu-kurz-selbst-schuld-Argument, mit dem Frauen immer wieder konfrontiert werden, wenn sie über Gewalterlebnisse sprechen. Ein Mechanismus, der dazu beiträgt, dass Grenzüberschreitungen bagatellisiert und verharmlost werden. Der dazu führt, dass Betroffene die Schuld bei sich suchen, sich schämen oder sich gar nicht erst trauen, über sexualisierte Gewalt zu sprechen. Ein Mechanismus, der mundtot macht. 

Knapp jede zweite Frau in Deutschland ist schon mal sexuell belästigt worden

Doch die Verantwortung tragen immer diejenigen, die Macht missbrauchen und Rechte anderer verletzen. Und das sind meistens Männer, wie Zahlen zeigen: Knapp jede zweite Frau in Deutschland ist laut YouGov-Umfrage schon einmal sexuell belästigt worden. 98 Prozent der Taten gingen von Männern aus. Von den unter 25-Jährigen sagen sogar 68 Prozent der Frauen, dass sie sexistische An- und Übergriffe erlebt haben. Laut Bundesfamilienministerium ist jede dritte Frau einmal im Leben von Gewalt betroffen.

Erschreckend auch die Befragung von Plan International, die Anfang der Woche für Furore sorgte: 34 Prozent der Männer zwischen 18 und 35 Jahren sind demnach gewalttätig geworden, um einer Frau Respekt einzuflößen. Inzwischen wurde Kritik an der Methodik der Umfrage laut, doch es gibt zahlreiche Untersuchungen, die belegen, wie tief verankert machistische Denkmuster und stereotype Rollenbilder immer noch sind. Sexistische Übergriffe sind kein spezifisches Problem der Musikbranche, sondern der patriarchalen Gesellschaft. 

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Frauen wachsen mit Warnungen im Kopf auf

Lauf nachts nicht alleine nach Hause, geh nicht im Dunkeln joggen, lass dein Getränk nicht aus den Augen – Frauen wachsen mit Warnungen im Kopf auf, wohl wissend, dass sie Realität werden können. Das Problem ist nicht das fehlende Bewusstsein für potenzielle Gefahrensituationen, sondern dass diese als normal hingenommen werden. Aber es ist nicht normal, dass die eine Hälfte der Menschheit derartige Warnungen im Kopf hat und die andere nicht. Wer das denkt und keinen Grund für Veränderung sieht, ist Teil des Problems, denn er schreibt die patriarchalen Gewaltstrukturen fort. 

Die #Metoo-Debatte hat sexualisierte Gewalt gegen Frauen nicht beendet, aber das Bewusstsein geschärft. Dass junge Frauen wie im Fall Rammstein mögliche Grenzüberschreitungen nicht mehr einfach hinnehmen, sondern sich dagegen wehren, indem sie öffentlich darüber sprechen, ist mutig. Dass sie dafür angefeindet werden, zeigt, wo die eigentliche Provokation liegt: dass da Machtstrukturen aufgebrochen werden und ein System infrage gestellt wird, in dem männliches Fehlverhalten als Norm angesehen wird.

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