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Kommentar: Es ist Zeit, Abschied vom Kino zu nehmen

Kommentar

Es ist Zeit, Abschied vom Kino zu nehmen

Richard Mayr
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    Kinobesuche waren wegen der Pandemie in den vergangenen zwei Jahren mal eingeschränkt, mal gar nicht möglich. Das Streaming feiert hingegen Erfolge.
    Kinobesuche waren wegen der Pandemie in den vergangenen zwei Jahren mal eingeschränkt, mal gar nicht möglich. Das Streaming feiert hingegen Erfolge. Foto: Ralf Lienert

    Auch wenn heute die Berlinale eröffnet, auch wenn nun die Filmwelt die nächsten Tage nach Berlin blicken wird, auch wenn dort wieder angeknüpft werden soll an alte Zeiten – wirklich gut steht es um die alte Filmindustrie in diesen Tagen nicht. Eigentlich ist es Zeit, sich langsam innerlich von ihr zu verabschieden. Totgesagt wurde das Kino ja schon oft, immer wieder hat die Filmindustrie Antworten auf neu erwachsene Konkurrenz gefunden. So schlimm wie jetzt sah es allerdings noch nie aus. Je länger die Corona-Krise andauert, je größer die Abonnenten-Zahlen der Streaming-Dienste werden, desto deutlicher wird, dass sich gerade etwas grundlegend wandelt.

    Denn diese Krise lässt sich nicht einfach aussitzen, diese Krise geht tiefer, sie geht an die Substanz, zerstört langsam den Nimbus der Filmindustrie, den sie sich in einem Jahrhundert aufgebaut hat. Das Film- und Kinosystem war in diesem Zeitraum immer die Königsklasse für alle, die filmenderweise erzählen wollten – ob nun Regisseurinnen und Regisseure, Drehbuchschreiberinnen und Drehbuchschreiber, Schauspielerinnen oder Schauspieler. Dort wurden neue Weltstars geboren. Dort wurde das Große, Spektakuläre und immer mal wieder auch Geniale geschaffen. Dadurch, dass die größten Talente fast zwangsläufig in diesem System landeten, hatte es immer wieder die Kraft, sich neu zu erfinden, wenn Krisen durch den Medienwandel anstanden: als Fernseher auf den Markt kamen, das Farbfernsehen Standard wurde, etc.

    Das System ist aus dem Gleichgewicht geraten

    Alles nicht so schlimm also? Nein, das kann man mittlerweile nicht mehr sagen. Dieses sich selbst erhaltende System ist nämlich aus dem Gleichgewicht geraten. Die großen Streamingdienste können mittlerweile den klassischen Hollywood-Studios in deren ureigenster Kerndisziplin Paroli bieten. Nicht zum ersten Mal schickt Netflix einen aussichtsreichen Kandidaten ins Rennen um die diesjährigen Oscars. Mit "Power of The Dog" von Jane Campion zeigt der Streaminganbieter auch, dass er auch Filmkunst mit hochkarätiger Besetzung produziert. Was wiederum heißt, dass die besten Kräfte heute eine Wahl haben und ihnen immer öfter ein Streaminganbieter ein Projekt ermöglicht.

    Richtiggehend bedrohlich macht die Situation, dass die großen Studios schon vor der Corona-Krise einen verheerenden Weg eingeschlagen haben: Außer den kommerziell höchst erfolgreichen Superheldengeschichten trauen sie sich nicht mehr viel zu. Neue Erzählungen, anspruchsvolle Filme mit Blockbuster-Potenzial sind nicht mehr die Regel, sondern die Ausnahme. Und vor diesen Ausnahmen scheuen sich die Studios immer mehr aus Angst vor Flops. Erst jüngst so geschehen mit dem neuen Spielberg, dessen "West Side Story" an den Kinokassen weit unter den Erwartungen geblieben ist.

    Im Kino bekam die Filmkunst gesellschaftliche Bedeutung

    Ein Grund zum Trauern? Für Nostalgiker ganz sicher. Der Kinosaal ist ein öffentlicher Ort, der viele anlockt, die unterschiedlichen Milieus anspricht, Menschen in einem Raum mit einem Stoff zusammenbringt. Im Kino bekam die Filmkunst gesellschaftliche Bedeutung. Aber nun setzt diese Entwicklung ein, die auch im Handel zu beobachten ist: Immer mehr Menschen suchen im Netz ihre Programme bei den Streaminganbietern. Und den Innenstädten drohen nicht nur aufgegebene Geschäfte, sondern auch leer stehende Kinos.

    In der Corona-Krise hat das der Staat durch die Unterstützung verhindert. Wenn das Publikum nach Corona nicht wieder in die Säle zurückkehrt, sondern weiter bequem im eigenen Heimkino streamt, wird es einsetzen. Der weltweite Umsatz der Kinos im Vor-Corona-Jahr 2019 betrug laut statista.de 42 Milliarden Dollar, 2020 dann nur noch 12 Milliarden Dollar. Ein solcher Einbruch zerstört auf Dauer die Substanz.

    Dass sich mit Amazon und Apple zwei der großen Internetgiganten im Streaming-Markt breit machen, Amazon mit seinem Prime-Angebot in Deutschland schon Marktführer vor Netflix ist, sollte mehr als bedenklich stimmen: So wenig man den Transformationsprozess stoppen kann, der die Macht- und Wirtschaftsverhältnisse von Kino- und Streaming-Markt gerade durcheinanderwirbelt – den neuen Markt einfach den Tech-Giganten zu überlassen, das würde den Quasi-Monopolisten ein weiteres Geschäftsfeld eröffnen, das sie dominieren. Wie viele Märkte müssen sich die Billionen-Dollar-teuren US-Konzerne mit ihren aberwitzigen Gewinnen noch einverleiben, bis mit einer Regulierung staatlicherseits ernst gemacht wird?

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