Hier sei es mal betont (und wird im Wortsinne ja auch eingelöst): Liebe Lesende! Schön, dass Sie da sind. Denn das, was sich für Sie auch an dieser Stelle wie selbstverständlich einlöst, ist es eben nicht.
Das zeigten kürzlich gleich zwei Studien, die bei all den anderen Krisen für zu wenig Aufregung sorgten. Erste Zahl: Rund ein Viertel der Kinder in Deutschland können am Ende der vierten Klasse nicht sinnentnehmend mit Texten umgehen, können also im eigentlichen Sinne nicht lesen. Sie verstehen nicht. Und ihre Schullaufbahn ist mit diesem fundamentalen Mangel schon früh zum Scheitern verurteilt, die Wahrscheinlichkeit, dass es diese vielen Menschen in späteren Jahren noch nachholen, ist gering. Zweite Zahl: Bei Deutschlands Neuntklässlern verfehlt rund ein Drittel die Mindeststandards beim Lesen. Das ist längst nicht nur für den Kultur- und Bildungsstandort Deutschland ein dramatischer Befund.
Deutschland, Hort der Dichter und Denker, vor dem Untergang?
Zugleich feiert eben dieser Standort aktuell aber auch ein bedeutsames Jubiläum: Zum 75. Mal findet die Frankfurter Buchmesse statt – wieder mit Verlagen aus über hundert Ländern und Hunderttausenden Besuchern. Denn aus diesem wenige Jahre nach dem Untergang des Nazi-Ungeistes erstandenen Lese-Fest ist längst das größte seiner Art weltweit geworden. Stars zu Gast, ausverkaufte Lesungen, volle Hallen, engagierte Debatten über Bücher – Deutschland, der alte Ort der Dichter und Denker, ist bei zurückgehenden Verkaufszahlen noch immer ein Hort der Literatur. Und darf darauf durchaus auch stolz sein.
Bloß: Wie geht das zusammen? Zieht mit zukunftsweisenden Zahlen hier der endgültige Untergang der Kulturtradition herauf? Oder verfestigt und verschärft sich im beschleunigenden Kultur- und Medienwandel schlicht eine Spaltung zwischen bildungsnahen und bildungsfernen Schichten, die es klassisch in Gesellschaften gibt und an deren Beseitigung letztlich auch die Moderne scheitert? Aber Moment. Denn wer neben aller Unterhaltung die Erschließung der Welt, das Weiten des Horizonts, das Ausgreifen der Fantasie, das Bespiegeln des Ich oder das Verschmelzen mit dem Blick anderer als unverzichtbare Qualitäten des Lesens preist, der unterschätzt ganz sicher die Möglichkeiten, die gerade dieses visuelle und vernetzte Zeitalter zur Welt- und Identitätserschließung neben allen Abenteuern bietet. Vorsicht vor allzu viel Kulturpessimismus also.
Medienwandel und Zuwanderung: Können die Schulen das alles noch abfangen?
Aber klar sollte trotzdem sein: Der stolze Literatur-Hort Deutschland muss sich sehr viel mehr um den Nachwuchs und die Grundversorgung des Lesens kümmern. Denn die Defizite sind eben nicht nur ein Problem für die Kulturnation, sondern auch eines für die Demokratie – für Voraussetzungen, von denen sie lebt und für die sie in diesem Fall aber auch sorgen kann. Denn Menschen denken nun mal in Sprache, sie lernen an Texten die Konzentration und das Verstehen auch von Komplexerem – und sie befähigen sich damit, eigene Meinungen zu entwickeln, die Meinungen von anderen zu verstehen und in den Austausch zwischen beiden zu treten. Debatten zu führen also, die den Namen auch verdienen und die diese Gesellschaft so nötig hat angesichts der komplexen Herausforderungen von Gegenwart und Zukunft. Kein Zufall jedenfalls, dass in den USA einer großen Erfolg hat, der nach Analysen mit dem Wortschatz eines Viertklässlers auftritt.
Damit die großen Vereinfacher nicht auch in Deutschland (noch mehr) Erfolg haben, braucht es also auch das Lesen. Und samt der zusätzlichen Herausforderungen in einer Zuwanderungsgesellschaft kann es dafür nur einen Ort geben, wo die Probleme angegangen werden können: die Grundschule. Die zuallererst und (wie bei durchaus erfolgreichen Modellprojekten etwa in Hamburg) auch auf Kosten anderer Lehrplaninhalte dazu befähigt werden muss, den Kindern das Verstehen von Texten in der gemeinsamen Sprache dieses Landes beizubringen. Natürlich können auch belesene Menschen dumm oder böse sein – das zeigt sich nicht zuletzt in der Literatur, durch manche Figur wie durch manchen Autor. Aber das Lesen zu lehren heißt noch immer, die Hoffnung auf die Aufklärung nicht aufzugeben.