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Kommentar: Das einfache Moralisieren in der Kultur bestürzt zutiefst

Kommentar

Das einfache Moralisieren in der Kultur bestürzt zutiefst

Richard Mayr
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    Auch von Opernsängeirn Anna Netrebko hat man gefordert, sich von Putin und dem Krieg in der Ukraine zu distanzieren.
    Auch von Opernsängeirn Anna Netrebko hat man gefordert, sich von Putin und dem Krieg in der Ukraine zu distanzieren. Foto: Barbara Gindl, APA/dpa

    Russische Künstlerinnen und Künstler, die sich nicht von dem Krieg in der Ukraine distanzieren, sind auf Bühnen nicht mehr erwünscht. So verständlich das sein mag, so wenig man als Außenstehender widersprechen kann, wenn sich München von seinem Star-Dirigenten Valery Gergiev trennt und Anna Netrebko von sich aus Auftritte absagt: Es handelt sich um symbolische Handlungen, die den Krieg in der Ukraine keinen Tag früher oder später beenden werden. Gleichzeitig wird die Kunst- und Kulturwelt zum Nebenschauplatz des Kriegs.

    Allerdings bestürzt es, zu realisieren, auf was für ein einfaches Schema die moralischen Standpunkte im Angesicht des Ukraine-Kriegs gebracht werden: dagegen oder dafür, weiß oder schwarz, Ukraine oder Russland. Dazwischen ist kein Platz und Verständnis mehr. Von Deutschland aus lässt sich eine Verurteilung des Kriegs leicht mit Nachdruck vertreten: In einem Land, in dem die freie Meinungsäußerung möglich ist, darf der Krieg in der Ukraine auch so genannt werden, ist der Einfluss der Putin-Diktatur weit weg. Dort allerdings wird man mittlerweile mit bis zu 15 Jahren Gefängnishaft bedroht, wenn man zur russischen Invasion Krieg sagt. Putins Dauer-Präsidentschaft hat sich zu einer Diktatur entwickelt, die Opposition jeglicher Art vollständig unterdrücken will. Unabhängige Medien gibt es so gut wie keine mehr.

    In Diktaturen gibt es nur falsche Entscheidungen

    Das ist hier bei uns auch alles bekannt; aber was es für die Menschen bedeutet, die in dieser Diktatur leben müssen, die aus Russland stammen und dort ihre Heimat haben, das wird anscheinend nicht mehr mitbedacht. Auf der einen Seite werden internationale Journalistinnen und Journalisten aus Russland abgezogen, weil sie dort nicht mehr sicher arbeiten können; auf der anderen Seite sollen Künstlerinnen und Künstler aus Russland sich öffentlich von dem Krieg und Putin distanzieren. Das hat einen schalen Geschmack, passt irgendwie nicht zusammen und lässt gänzlich außen vor, dass es in Unterdrückungssystemen, in Diktaturen, nur falsche Entscheidungen gibt.

    Gerade davon berichtet immer wieder die Kunst, gerade das gehört zu den wiederkehrenden Tragödienstoffen. Menschen, die keinen Ausweg aus dem Unglück finden: Entweder sie arrangieren sich mit der Macht und den Mächtigen und verraten ihre Werte und moralischen Positionen oder sie warten ab und müssen sich verstellen und lügen. Und diejenigen, die offen Widerstand leisten, riskieren damit drastische Folgen für das eigene Leben.

    Die Moral ist ein zweischneidiges Schwert

    Aber auf die Kunst und das in ihr gespeicherte Wissen hört man gerade nicht. Die Erschütterung und Ohnmacht, in die einen der Angriffskrieg Russlands versetzt, werden nicht besser, wenn als Ersatzhandlung Druck auf andere ausgeübt wird. Und die Moral – das lehren Kunst, aber auch die Religion und die Philosophie seit Jahrtausenden – ist ein zweischneidiges Schwert. Viel zu oft glauben Menschen ja von sich selbst, auf der richtigen Seite zu stehen, die richtigen Werte zu vertreten, also „gut“ zu sein. Aber wer das von sich selbst glaubt, ist es schon nicht mehr. Er hebt sich selbst über die anderen und widerspricht sich dadurch.

    Wer diesen Grundzwiespalt aller Moral beherzigt, wird gezwungen, anders auf die Welt zu schauen – nicht nur auf die anderen, von denen gefordert wird, sondern gleichzeitig auch auf sich, der von anderen verlangt. Anstelle des moralischen Blicks auf die Welt tritt dann viel häufiger das Mitleid. Welche gewaltigen Kräfte Mitleid entfesseln kann, sieht man gerade in Europa – zum Beispiel bei den Menschen in Polen, die schon über eine Million Ukrainer innerhalb kürzester Zeit aufgenommen haben.

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