Das ganze Viertel ist auf den Beinen, als Juri Gagarin in feinster Paradeuniform aus dem Auto steigt. Der Oberst der sowjetischen Luftwaffe war 1961 der erste Mensch im All und wenige Jahre später besucht er die Neubausiedlung, die nach ihm benannt wurde. Die Dokumentaraufnahmen, mit denen Fanny Liatard und Jérémy Trouilh ihren Film „Gagarin - Einmal schwerelos und zurück” beginnen, stammen nicht aus der Sowjetunion, sondern aus Frankreich. In Ivry-sur-Seine wurde 1963 die Cité Gagarine mit 273 Wohneinheiten eingeweiht.
Die nach dem Kosmonauten benannte Siedlung war ein Vorzeigeprojekt des sozialen Wohnungsbaus, mit dem man einer Verslumung des Pariser Stadtrands entgegenwirken wollte. Mehr als 50 Jahre später ist von dem idealistischen Glanz wenig übrig gebliebenen. Wie viele Vorstädte in der Banlieue kämpft auch die Cité Gagarine mit den Folgen von Arbeitslosigkeit und Kriminalität. Hinzu kommen Baumängel, Asbest und der Verschleiß eines halben Jahrhunderts.
In der Cité Gagarin kämpft Youri gegen den Verfall
Der Raumfahrt begeisterte Youri (Alseni Bathily) ist hier aufgewachsen. Gagarine ist seine Heimat und alles, was dem 16-Jährigen geblieben ist, nachdem seine Mutter ohne ihn zu ihrem neuen Lebensgefährten gezogen ist. Youri will sich mit dem Verfall seines Quartiers nicht abfinden und ist zum selbst ernannten Hausmeister der Hochhausblöcke geworden. Mit seinem Freund Houssam (Jamil McCraven) wechselt er die defekten Lampen in den Hausfluren, repariert den Fahrstuhl und führt über alles genau Buch. Zu den beiden gesellt sich junge, patente Automechanikerin Diana (Lyna Khoudri), die mit ihrer Roma-Familie am Rand der Siedlung Quartier bezogen hat.
Aber Youris Bemühungen können die Siedlung nicht retten. Die Beauftragten der Stadt erstellen eine lange Mängelliste und beschließen den Abriss der Wohnblöcke innerhalb von sechs Monaten. Die Nachbarn ziehen nacheinander aus. Nur Youri bleibt zurück und baut seinen Block heimlich zu einer autarken Raumstation um.
Das französische Kino hat sich schon oft in die Banlieue begeben, um sozialen Missstände anzuprangern. „Gagarin” geht einen grundsätzlich anderen Weg, indem er nicht Gewalt und Kriminalität in den Vordergrund rückt, sondern sich auf den sozialen Mikrokosmos einlässt, der für die Menschen zur eigentlichen Heimat geworden ist. Liatard und Trouilh hatten bereits 2014 einen Dokumentarfilm über das vom Abriss bedrohte Viertel gedreht und vermitteln auch in ihrem Spielfilm ein lebendiges Bild des sozialen Miteinanders unter widrigen Umständen. Gleichzeitig zeigen sie in ästhetisierten Weitwinkelaufnahmen immer wieder die eigenwillige Schönheit dieser Betonwelt aus den 1960er-Jahren. Mit ihrer jugendlichen Hauptfigur, die Alseni Bathily mit einer herzergreifenden Sensibilität verkörpert, verbinden sie den Lebensgeist, die Verzweiflung und Solidarität, die in diesem sozialen Milieu gleichermaßen zu Hause sind. In der zweiten Filmhälfte wechselt das Regie-Duo vom sozialen bruchlos in einen magischen Realismus, der die Träume des jungen Großstadtkosmonauten und die widrige Wirklichkeit poesievoll aufeinander prallen lässt.
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