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Kino-Kritik: "Licorice Pizza" ist kein Film, sondern ein Traum

Kino-Kritik

"Licorice Pizza" ist kein Film, sondern ein Traum

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    Willkommen in den Siebzigern: Alana Haim als Alana und Cooper Hoffman als Gary in „Licorice Pizza“.
    Willkommen in den Siebzigern: Alana Haim als Alana und Cooper Hoffman als Gary in „Licorice Pizza“. Foto: Paul Thomas Anders, Metro-Goldwyn-Mayer Pictures Inc./dpa

    Stellt man sich einmal vor, dass es einen Himmel nur für Regisseurinnen und Regisseure gäbe, taucht natürlich zuallererst die Frage auf, wer dort oben seinen Platz finden würde. Klar, Hitchcock wäre in so einem Himmel, Fellini ganz sicher auch, Orson Welles sowieso. Aber was würden die Herren (ja, ist leider bislang so!) schauen an langen Paradiestagen? Würden sie dem neuesten Scorsese entgegen fiebern? Eher nicht, da war zu viel Leonardo di Caprio zuletzt. Wäre es der neue Coppola (oder ein Streifen seiner Tochter)? Ach, so richtig viel ist ihm seit dem Paten und der Apokalypse nicht mehr eingefallen, und Sofia Coppola ist formabhängig. Vielleicht dann Spielberg, weil man ihm selbst die Dinos verzeihen kann? Gerade hat er aber nicht einmal „West Side Story“ richtig auf die Leinwand bekommen.

    Auf eins könnten sich die Regiegötter vermutlich rasch einigen: dass sie alle den neuen Paul Thomas Anderson schauen würden. Der Mann ist ein noch sehr lebendiger Regisseur, 51 Jahre alt, erst neun größere Filme. Doch er ist längst unsterblich, und das völlig zu Recht.

    Man kann die Besprechung des neuesten „PTA“, wie sein Werk in Hollywood nur heißt, so träumerisch beginnen, weil auch dessen jüngster Streifen sich wie ein Traum anfühlt. Und auch, weil man nicht viel Zeit damit verbringen muss, die Handlung zu schildern. Es geht, schlicht gesagt, um einen 15 Jahre alten Jungen, der ein TV-Kinderstar war/ist und deswegen randvoll mit altersklugem Selbstbewusstsein, so dass er nun schon den Karrierewechsel plant und ein Wasserbettengeschäft aufbauen will. Und dann ist da eine 25 Jahre junge Frau im San Fernando Valley, jener seltsamen Zwischenwelt aus Dauersonne und Shoppingcenter-Tristesse nahe von Los Angeles, die nicht recht weiß, was sie will, ganz sicher aber nicht den ganzen historisch-israelisch-jüdischen Ballast ihrer Eltern mit sich herumschleppen.

    Stars wie Bradley Cooper und Sean Penn tauchen in "Licorice Pizza" auf

    Irgendwann spürt sie, dass sie Gary will, ihm das aber natürlich nicht zeigen darf. Der hingegen sagt gleich jedem, der es hören möchte, dass er das Mädchen getroffen habe, das er heiraten werde. Dass es umgekehrt ziemlich eklig wäre, wenn ein viel älterer Junge dies über ein viel jüngeres Mädchen sagen würde, stimmt, ist aber hier völlig egal, weil alles völlig keusch ist, eine Jungromanze ohne Jungschmuddelbilder. Und dann tauchen noch Stars auf wie Bradley Cooper (als völlig durchgeknallter Freund von Barbara Streisand, der die korrekte Aussprache von deren Namen zu seiner Mission gemacht hat und ein veritables Koks-Problem hat, übrigens auch basierend auf einem sehr realen Streisand-Gefährten) und, ungewohnt charmant, Sean Penn, der Alana scheinbar den Kopf verdreht, was Gary natürlich überhaupt nicht gefällt. Dazu erklingen die Gitarren von Radiohead, Nina Simone singt, David Bowie sowieso, über das Leben auf dem Mars, und man will gar nicht mehr, dass es jemals aufhört, auch wenn der Streifen schon mehr als zwei satte Stunden gedauert hat.

    Auf der legendären Rezensionsseite von Roger Ebert, einem amerikanischen Filmkritik-Papst, heißt es über den Film, der im Titel eine Video-Filmverleihkette aus der guten alten Zeit feiert, ohne dass diese eine Rolle spielt: „Andersons golden scheinende Vision des San Fernando Valley in den 1970er Jahren ist so verträumt, so voller Möglichkeiten, dass es fast wirkt, als würde sie eigentlich gar nicht existieren. Mit seinen langen Dialogen im Gehen, dem tiefen Gefühl, dass Abenteuer hinter jeder Ecke und in jeder Minute lauert, ist der ganze Film wie ein magischer Ort, an dem alles passieren könnte, wenn der Tag zur Nacht wird.“

    In "Licorice Pizza" muss man sich als Zuschauer verlieren

    Doch eigentlich geht es gar nicht darum, was passiert oder nicht. Das ist kein Film, in den man geht, um einer Handlung zu folgen, einen Täter zu erraten oder einem Happy End entgegen zu bangen. In diesen Film muss man sich verlieren, so wie in früheren Anderson-Werken wie „Punch Drunk Love“, das einen genau in dem schummrig-seligen Gefühl hinterließ, das der Titel nahelegte. Er ist auch eine Liebeserklärung an eine Gegend und ein Genre, so wie in „Boogie Nights“ an die amerikanische Pornoindustrie. Hier ist es wieder die Region um Los Angeles, die Anderson nun schon in einem dritten Film verewigt und in der er selbst aufgewachsen ist, mitsamt der bizarren Kinderstarszene, die sogar auf realen Vorbildern beruht und immer haarscharf zwischen Ausbeutung und Erfüllung balanciert. Wohl auch deswegen zieht sich durch den ganzen Film bei allem Witz eine stete Gefahr, eine ständig lauernde Ungewissheit, dass irgendwie alles möglich ist, alles passieren kann, dass es aber eben auch richtig schlecht ausgehen kann (und ein bisschen tut es das sogar).

    Schließlich ist es wieder ein Anderson-Film, der Menschen auf der Leinwand zeigt, deren Schauspielleben danach nicht mehr das Gleiche sein wird: Mark Wahlberg spielte den Pornostar Dirk Diggler in „Boogie Nights“ und war auf einmal ein ernsthafter Schauspieler und nicht bloß ein Rapper mit Sixpack. Tom Cruise verkörperte in Magnolia einen Sex-Motivationstrainer mit Vater-Problemen und war auf einmal nicht mehr nur der Mann, der am besten aus Helikoptern springen kann.

    Hauptfigur Gary Anderson wird gespielt von Cooper Hoffman, dem Sohn des viel zu früh verstorbenen Philip Seymour Hoffman, der doch schon so fehlt. Vielleicht wird Cooper aber gar ein noch größerer Star als sein Vater, vielleicht gerade weil er dann doch ganz anders wirkt als dieser, weicher, auch verletzlicher. Und was wird aus Alana Halm (im richtigen Leben übrigens eine begabte Indie-Rockerin mit ihren Schwestern)? Es ist einer jener seltenen Filmen, in denen man einfach dabei zugucken kann, wie sich die Kamera in eine Darstellerin verliebt und wie sie diese Liebe ganz unbefangen erwidert.

    Um auf den Himmel der Regie-Götter zurückzukommen. Viele vergleichen Anderson mit Orson Welles, weil man wie bei dem nie weiß, welches Genre er sich als nächstes vornimmt (es waren, neben all der sonnigen Träumerei schon sehr düstere Streifen wie „There Will Be Blood“ und „The Master“ darunter). Der Vergleich hinkt natürlich klar. Aber viel wichtiger ist: Orson Welles bringt hier auf Erden keine neuen Filme mehr ins Kino, Anderson schon. Also rein mit Ihnen in den Kinosessel und träumen Sie mit.

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