Spätestens mit seinem zweiten Film „Memento“ etablierte sich Christopher Nolan vor 23 Jahren als Regisseur, der sich darauf versteht, Geschichten fürs Kino komplex, spannend und vor allem selbstbewusst zu erzählen. Einige Jahre später revolutionierte er mit „Batman Begins“ und der Fortsetzung „The Dark Knight“ das Superhelden-Genre, seither gilt er nicht wenigen Fans als der Leinwand-Großmeister seiner Generation. Mittlerweile wird jeder seiner Filme schon im Vorfeld als Ereignis gefeiert, selbst wenn – wie im Fall seines neuen Werks „Oppenheimer“ – der Plot auf den ersten Blick klingt wie eine dröge Geschichtsstunde.
Das mit der Geschichtsstunde erweist sich in „Oppenheimer“ ebenso schnell als Trugschluss wie die Erwartung fehlgeleitet ist, hier ein klassisches Biopic vorgesetzt zu bekommen. Trotzdem ist der Titel natürlich Programm: Nolan erzählt aus dem Leben von J. Robert Oppenheimer, jenem Physiker, der in den 1940er Jahren das sogenannte Manhattan-Projekt leitete und aufgrund seiner Arbeit als Erfinder der Atombombe bezeichnet wird.
Während des Studiums verschlägt es Oppenheimer nach Deutschland
Mit einem Verweis auf Prometheus, der den Menschen das Feuer gab und dies später bitter bereute, beginnt Nolan seinen Film, bevor er sich seinem Protagonisten widmet. Oppenheimer (Cillian Murphy), als Sohn deutsch-jüdischer Einwanderer in New York geboren, verschlägt es während des Studiums in den 1920er Jahren erst nach Cambridge, dann nach Göttingen, wo sein Weg unter anderem den von Nobelpreisträger Niels Bohr (Kenneth Branagh) und von Werner Heisenberg (Matthias Schweighöfer) kreuzt. Ähnlich wie sie will er sich nicht von den angestammten Grenzen physikalischer Forschung beschränken lassen. Ihn begeistert die noch junge, vielen paradox erscheinende Quantenmechanik, der er sich auch nach seiner Rückkehr in die USA verschreibt.
Zurück in der Heimat macht Oppenheimer sich in Berkeley nicht nur Freunde damit, dass er viel Interesse an der kommunistischen Idee aufbringt. Im Umfeld der Partei lernt er seine Geliebte (Florence Pugh) und seine spätere Ehefrau Kitty (Emily Blunt) kennen. Während des Zweiten Weltkriegs schließlich, als Präsident Roosevelt sich für die USA eine nukleare Bombe wünscht und dabei schneller sein will als die Nazis, macht ihn Lieutenant General Groves (Matt Damon) zum wissenschaftlichen Leiter des dafür gegründeten Manhattan-Projekts. Gemeinsam bauen sie abgelegen in der Wüste von New Mexico das Los Alamos National Laboratory auf, mit eigens errichteter Stadt für jene Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler, die dafür sorgen, dass dort am 16. Juli 1945 im Trinity-Test die erste Atombombe der Welt gezündet wird.
Kinofilm "Oppenheimer": Christopher Nolan erzählt die Geschichte nicht chronologisch
Den Weg dorthin zeichnet Nolan, dem fürs Drehbuch die Oppenheimer-Biografie von Kai Bird und Martin J. Sherwin als Grundlage diente, natürlich keineswegs chronologisch nach. Die Handlung springt hin und her auf dem Zeitstrahl, Jahreszahlen werden dabei nicht eingeblendet. Das kann anfangs verwirrend sein (auch wenn zumindest die entscheidende Passage rund um eine Senatsanhörung des von Robert Downey jr. gespielten Politikers Lewis Strauss dezidiert in Schwarz-Weiß gehalten ist), zumal Nolan die Oppenheimer umgebenden Figuren nicht auf eine Handvoll beschränken mag.
Doch je weiter der 180-minütige Film voranschreitet, desto mehr zieht er das Publikum in seinen Bann. Ohne dass man viel von Physik verstehen müsste, macht Nolan, tatkräftig unterstützt von seiner Editorin Jennifer Lame und dem Komponisten Ludwig Göransson, spürbar, dass Oppenheimers Gehirn anders zu funktionieren scheint als andere. Seine Hingabe an die Wissenschaft, die alles andere in den Hintergrund treten lässt, wird von Minute zu Minute nachvollziehbar; der Countdown zum Atombombentest gehört trotz des hinlänglich bekannten Ausgangs zum Spannendsten, was bisher in diesem Jahr auf der Leinwand zu sehen war, und kommt obendrein ohne CGI-Effekte aus.
Endgültig zum Meisterwerk wird „Oppenheimer“ im letzten Drittel, wenn die Bombenabwürfe über Japan dem Forscher die lange ausgeblendeten Folgen seines Handelns vor Augen führen. Ein Umdenken setzt ein, das wiederum scharfen Gegenwind aus Washington nach sich zieht – das vielleicht erstaunlichste Kapitel dieser Lebensgeschichte. Der Film mit seinen vielschichtigen Fragen nach Verantwortung und mit der schauspielerischen Meisterleistung von Cillian Murphy in der Titelrolle gehört zum bislang Besten in Nolans nicht gerade schwachem Œuvre.