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Foto: DCM, dpa
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Vorlesen? Erzähl mir lieber, warum du allein lebst: Johnny (Joaquin Phoenix) und sein Neffe Jesse (Woody Norman).

Kino-Kritik
23.03.2022

"Come on, come on": Die kleinen Meister und ihre richtigen Fragen

Von Martin Schwickert

Hollywood kann auch ohne Kitsch vom nicht immer leichten Verhältnis zwischen Kindern und Erwachsenen erzählen. Zumindest, wenn Akteure mitspielen wie in diesem Film.

Mit Mikrofon und Aufnahmegerät reist Johnny (Joaquin Phoenix) durch die USA und befragt fürs Radio Kinder und Jugendliche: Wenn du an die Zukunft denkst, wie stellst du sie dir vor? Wovor hast du Angst? Was macht dich wütend? Was macht dich glücklich? Solch elementare Fragen werden Kindern nur selten gestellt, weil sie von der Erwachsenenwelt oft unterschätzt werden. Wenn die befragten Jungen und Mädchen antworten, ist es, als würde sich ein Tor öffnen. Nachdenklich, klug, ungefiltert, präzise und wahrhaftig klingen ihre Worte, die dem Pessimismus in Zeiten des Klimawandels tapfer eigene Zukunftsperspektiven abtrotzen.

Diese dokumentarischen Interview-Sequenzen werden in Mike Mills Spielfilm „Come on, Come on“ immer wieder hineinmontiert und zeigen, welche Schätze es in Kopf und Seele eines Kindes zu entdecken gibt. Es geht um das aufmerksame Zuhören zwischen Erwachsenen und Kindern in diesem zarten, einfühlsamen Film, der von der nachhaltigen Begegnung zwischen dem Radiojournalisten Johnny und seinem neunjährigen Neffen Jesse (Woody Norman) erzählt. Johnny ist nach einer langjährigen Beziehung wieder Single und hat selbst keine Kinder. Als er an einem einsamen Dienstreise-Abend seine Schwester anruft, ist das die erste Kontaktaufnahme seit langer Zeit. Viv (Gaby Hoffmann) eröffnet ihm, dass sie für eine Woche verreisen muss, um dem psychisch kranken Ex-Mann und Vater ihres Sohnes unter die Arme zu greifen. Johnny bietet an, sich um den Jungen zu kümmern – und findet sich von einem Tag auf den anderen in der Elternrolle wieder, mit der er keinerlei Erfahrungen hat.

Die Antwort lautet "Blah, blah, blah"

Zweifellos ist dieser Jesse ein besonderes Kind. Intelligent, aber auch ein Einzelgänger. Am Samstagmorgen hört er lautstark Klassikkonzerte, und vor dem Einschlafen spielt er gern das entlaufene Waisenkind, das ein neues Zuhause sucht. Rollenspiele und Geschichten erfinden, darin ist der Onkel eine Niete. Auch wenn er aus einem Buch vorliest, wird das Kind ungeduldig und stellt Fragen, die direkt ins Herz treffen. Warum lebst du allein? Warum hast du so lange nicht mit meiner Mutter gesprochen? Wenn der Onkel ihn mit Ausflüchten abspeisen will, sagt der Junge nur „Blah, blah, blah“ – so wie es Greta Thunberg als Ikone ihrer jungen Generation beim Klimagipfel in Glasgow getan hat.

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Foto: DCM/dpa
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"Come On, Come On": Johnny (Joaquin Phoenix) nimmt Jessy (Woody Norman) huckepack.

Als die Mutter ihre Abwesenheit verlängern muss, nimmt Johnny den Neffen mit von Los Angeles nach New York. Hier beginnt Jesse das fremde Leben seines Onkels besser zu verstehen. Aber die Annäherung zwischen den beiden erfolgt nicht reibungslos. Als Johnny den Neffen im Straßengewühl verliert, ist die Panik übermächtig. Auch wenn er ihn kurz darauf wiederfindet, fühlt sich der Onkel der Verantwortung nicht mehr gewachsen. In abendlichen Telefonaten versucht Viv ihn zu beruhigen, erklärt dem Bruder die Gefühlswelt ihres Sohnes und die eigenen Versagensängste, die zum elterlichen Alltag gehören.

Eigentlich sind die Sehnsüchte nicht so weit auseinander

Die Annäherung zwischen einem kinderlosen Mittvierziger und einem neunjährigen Jungen – wie leicht hätte eine solche Geschichte im sentimentalen Hollywood-Sumpf versinken können. Aber Mike Mills („Jahrhundertfrauen“) überzeugt auch hier wieder durch seine aufrichtige Sensibilität, mit der er den Verständnisschwierigkeiten zwischen Kindern und Erwachsenen auf den Grund geht. In einem mäandernden Erzählton lässt er mit Onkel und Neffe zwei grundverschiedene Erlebniswelten miteinander in Kontakt treten. Das langsame Vortasten führt hier ohne Plot-Akrobatik zu einer äußerst spannenden Beziehungsdynamik, in der beide Seiten an eigene Grenzen geraten und gleichzeitig feststellen, dass ihre Sehnsüchte und Ängste gar nicht so weit auseinanderliegen.

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„Come on, Come on“ zeigt gleichermaßen die große Kraftanstrengung, wie die enorme Bereicherung, die in der Verantwortung für ein Kind liegt. Joaquin Phoenix, der sich mit dieser Rolle Lichtjahre von seinem Auftritt in „Joker“ entfernt, überzeugt mit seiner Tiefensensibilität vollkommen als unerfahrener Ersatzvater. Und der junge Woody Norman agiert mit erfrischender Spielfreude auf Augenhöhe zu dem Hollywoodstar.

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