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Kino-Kritik: "Im Westen nichts Neues": Die monströse Banalität des Tötens

Kino-Kritik

"Im Westen nichts Neues": Die monströse Banalität des Tötens

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    So hat sich der Gymnasiast Paul (Felix Kammerer, rechts) seinen freiwilligen Einsatz an der Front nicht vorgestellt: Szene aus „Im Westen nichts Neues“.
    So hat sich der Gymnasiast Paul (Felix Kammerer, rechts) seinen freiwilligen Einsatz an der Front nicht vorgestellt: Szene aus „Im Westen nichts Neues“. Foto: Reiner Bajo, Netflix

    Nach dem Gefecht werden im Niemandsland an der Westfront die Leichen der Soldaten eingesammelt und die Uniformen von den leblosen Körpern gezogen, die wenig später in einem Massengrab aufgereiht nebeneinanderliegen. Jacken und Hosen der Verstorbenen verschnürt man zu dicken Bündeln. Ganze Waggonladungen davon landen in der riesigen Halle, wo das Blut in großen Trögen herausgewaschen wird und zahllose Näherinnen die Einschusslöcher ausflicken.

    Von all dem ahnt Paul Bäumer (Felix Kammerer) nichts. Der 17-jährige Gymnasiast hat die Unterschrift seines Vaters gefälscht, um als Freiwilliger für Kaiser, Gott und Vaterland im Ersten Weltkrieg zu dienen. Als er das fremde Namensschild in der Jacke entdeckt, glaubt er, dass ihm irrtümlich die falsche Uniform ausgehändigt wurde. Schnell wird der Aufnäher des getöteten Soldaten herausgerissen und unter den Tisch fallen gelassen.

    "Im Westen nichts Neues": Für einen der Vorgänger gab es zwei Oscars

    Schon zu Beginn verbindet Edward Berger in seiner Neuverfilmung von Erich Maria Remarques Roman „Im Westen nichts Neues“ durch eine plastische Montage das anonyme, massenhafte Sterben an der Front mit den verklärten Illusionen des Kriegsfreiwilligen. Die literarische Vorlage von 1928 gehört bis heute zu den wichtigsten Antikriegsromanen, wurde in über 50 Sprachen übersetzt und weltweit mehr als 20 Millionen Mal verkauft. Als Klassiker gilt auch die US-Verfilmung von Lewis Milestone, die 1930 mit zwei Oscars ausgezeichnet, in Deutschland mit massiven Protesten nationalsozialistischer Schlägertrupps belegt und erst 1983 im deutschen Fernsehen erstmals in unzensierter Form gezeigt wurde. Kompromisslos schilderte Remarque die Grauen des Krieges aus der Kanonenfutter-Perspektive des jungen Soldaten. Diese Sicht behält auch Berger in seiner Netflix-Adaption bei, die vorab im Kino gezeigt und für Deutschland ins Oscar-Rennen geschickt wird.

    Absolut ungeschönt werden die Schrecken des Stellungskrieges an der Westfront ins Bild gefasst. Die Angst der jungen Rekruten zwischen Kugelhagel und Artilleriefeuer wird geradezu haptisch spürbar. Die Brutalität kriegerischen Mordens mit Gewehren, Bajonetten, Klappspaten, Gas und Flammenwerfern zeigt der Film direkt, aber ohne voyeuristische Verstärkereffekte. Die Gewalt ist dumpf, ziellos und gerade in ihrer Banalität monströs. Untermalt von den dröhnenden Soundkompositionen Volker Bertelmanns alias Hauschka, die jegliches Pathos vermeiden, wird dieser „Im Westen nichts Neues“ auch zu einer beklemmenden Klangerfahrung. Demgegenüber steht die fragile Menschlichkeit des jungen Paul, den der österreichische Schauspieler Felix Kammerer mit einer beeindruckenden emotionalen Transparenz durch die Kriegshölle führt. Mit angenehm unaufdringlicher Präsenz spielt Albrecht Schuch den erfahreneren Soldaten Stanislaus Katczinsky, der Paul unter seine Fittiche nimmt und den Schrecken des Schlachtfelds mit Pragmatismus begegnet.

    Daniel Brühl versucht in "Im Westen nichts Neues" zu retten

    Berger hat die literarische Vorlage entschieden eingekürzt. Die Grundausbildung, in der die Soldaten zu willenlosen Befehlsempfängern geschliffen werden, bleibt ebenso außen vor wie Pauls verstörende Erfahrungen beim Heimaturlaub. Dafür wird die Filmhandlung in einem zweiten Erzählstrang erweitert. Während die jungen Männer in den Schützengräben sterben, versucht der liberale Abgeordnete Erzberger (Daniel Brühl) gegen den Willen der deutschen Militärhierarchie mit Marschall Foch die Kapitulation auszuhandeln.

    Damit bricht Berger die stringente Perspektive des Romans auf und verortet die subjektiven Erfahrungen des Soldaten Paul in einem historischen Rahmen. Zehn Jahre nach Kriegsende konnte Remarque auf eine solche Einordnung verzichten. Fast hundert Jahre später kann ein wenig historischer Kontext nicht schaden, zumal die Sinnlosigkeit kriegerischen Sterbens hier noch deutlicher wird: In der letzten Stunde vor Inkrafttreten des Waffenstillstands schickt General Friedrichs (Devid Striesow) die Soldaten noch einmal zurück aufs Schlachtfeld.

    Natürlich konnten selbst die ausgefeilten Algorithmen von Netflix nicht vorhersehen, dass die Neuverfilmung von „Im Westen nichts Neues“ mit dem Krieg in der Ukraine eine unverhoffte Aktualität bekommt. Aber nun macht der Film zur richtigen Zeit auf eindrückliche Weise deutlich, was Krieg tatsächlich für diejenigen bedeutet, die gezwungen werden, ihn auszufechten.

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