Selten gab wohl ein so mutig-experimentelles mythologisches Jugendbuch wie „City of Trees“ von Chantal-Fleur Sandjon. Mutig, weil es sich in Thema, Schreibstil und Handlung komplett von der klassischen Art eines Jugendbuchs löst. Mutig auch, weil die 400 Seiten nicht nur der jungen Leserschaft ab 14 Jahre, sondern auch einem erwachsenen Publikum höchste Konzentration, Empathie und Offenheit für die Lebensweise einer multikulturellen Familie abverlangen. Nur, wer sich auf dieses Spannungsverhältnis, verbunden mit der Komplexität des Mystischen einlässt, kann überhaupt in die Welt der Hauptfigur Lindiwe eintauchen. Die junge Halb-Afrikanerin lebt mit ihren Eltern und ihren Geschwistern in Berlin, doch seit ihre ältere Schwester Khanyi spurlos verschwunden ist, kann sich Lin nicht mehr aus ihrer endlosen Trauer befreien. Geborgenheit, Schutz und Sicherheit fühlt sie nur im Wald, zu dem sie ebenso wie ihre Schwester eine übersinnliche und sogar körperliche Verbundenheit aufbaut. Sie fühlt, wie die Natur sie immer mehr in sich aufnehmen will. Als sogar Moos auf ihrer Wange zu wachsen beginnt, versucht Lindiwe, sich ihrer Bestimmung klar zu werden. Die Grenzen zwischen Realität und Magie scheinen sich aufzulösen. In dem Mädchen Unathi, einem Familienmitglied aus Südafrika findet sie eine Seelenverwandte.
In „City of Trees“ geht es um die Liebe in ihrer tiefgründigsten Form
Letztendlich geht es in „City of Trees“ um die Liebe in ihrer tiefgründigsten Form. Zwischen Menschen, aber auch zwischen der Natur und dem Menschen. Ihre Erlebnisse, Gedanken und Gefühle formuliert Ich-Erzählerin Lindiwe zum einen in langen naturalistischen Versen, zum anderen im alltäglichen Prosatext. Dazu nutzt Autorin Sandjon alle Möglichkeiten, die das Layout hergibt, um dem Gesagten und Gedachten mit einzigartigen Textformen und Schriftarten einen noch bedeutungsvolleren Raum zu geben.
Autorin Chantal-Fleur Sandjon hat 2023 den Deutschen Jugendliteraturpreis gewonnen
Absolut kein Buch, das zwischen Tür und Angel verschlungen werden kann. „City of Trees“ fordert ein Einlassen auf Zwischentöne, auf Poesie, auf blumige Sprachgeflechte, auf Mythologie und Übersinnliches, auf Hintergründiges zwischen und in den Zeilen. Für „Die Sonne, so strahlend und schwarz“ wurde die afrodeutsche Autorin Chantal-Fleur Sandjon 2023 mit dem Deutschen Jugendliteraturpreis ausgezeichnet, mit „City of Trees“ hat sie einen preiswürdigen Nachfolger geschaffen, der höchsten literarischen Ansprüchen gerecht wird.
Chantal-Fleur Sandjon: City of Trees. Thienemann, 400 Seiten, 20 Euro - ab 14 Jahre
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