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Jugendbuch: Martin Schäubles "Alle Farben grau": Wenn Jugendliche keinen Ausweg mehr sehen

Jugendbuch

Martin Schäubles "Alle Farben grau": Wenn Jugendliche keinen Ausweg mehr sehen

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    Einem brisanten Thema widmet sich Martin Schäuble in seinem Jugendbuch "Alle Farben grau", dem Suizid von Jugendlichen.
    Einem brisanten Thema widmet sich Martin Schäuble in seinem Jugendbuch "Alle Farben grau", dem Suizid von Jugendlichen. Foto: Tobias Elsässer

    In Frankfurt sprachen damals viele Menschen über Emil, dessen Bild sie auf Plakaten in der ganzen Stadt anblickte. Mehr als eine Woche lang versuchten die Eltern des 16-Jährigen im Juni 2020, dadurch Hinweise zu bekommen, wo sich ihr vermisster Sohn aufhalten könnte. Dann wurde Emil gefunden, tot, er hatte sich das Leben genommen. Wie konnte es dazu kommen? Wäre es zu verhindern gewesen? Und: Wie leben Eltern, Geschwister und Freunde damit weiter? Diesen Fragen geht der bemerkenswerte Roman "Alle Farben grau" von Martin Schäuble nach.

    Die Eltern des 16-Jährigen wollten das Schweigen aufbrechen

    "Die Geschichte ist zu mir gekommen", sagt Martin Schäuble und erzählt bei einem Treffen, wie die Eltern Emils sich über einen Bekannten an ihn wandten und die Idee entstand, über ihren Sohn zu schreiben. "Sie waren von Anfang an schonungslos ehrlich, weil sie das Schweigen zu diesem Thema aufbrechen wollen." Schäuble, selbst Vater dreier heranwachsender Söhne, ist Journalist und seit vielen Jahren auch Autor von Sachbüchern und Jugendromanen, die aktuelle und brisante Themen aufgreifen. Unter anderem hat er über Rechtsextremismus und Verschwörungstheorien geschrieben, über die Folgen der Vereinzelung in der Pandemie und die islamistische Radikalisierung Jugendlicher. Und nun also über die Selbsttötung eines Jugendlichen. 

    Suizid ist in der Altersgruppe der 15- bis 20-Jährigen nach Unfällen die häufigste Todesursache, besagen Untersuchungen, und in den meisten Fällen liegt dem eine psychische Erkrankung zugrunde. "Es ist nicht nur ein großes Thema, es ist ein riesiges Thema", hat Schäuble erkannt, als er anfing zu recherchieren. Aber es ist ein Thema, das in der Öffentlichkeit noch immer eine starke Tabuisierung und Stigmatisierung erfährt. In den Medien wird mit großer Zurückhaltung darüber berichtet, aus Respekt vor den Opfern und den Hinterbliebenen, und um Nachahmung zu verhindern. Für die Aufklärung über psychische Gefährdung und Erkrankung und die Prävention von Suiziden ist dies eher hinderlich. Schäuble setzt dem zögerlichen öffentlichen Umgang mit dem Thema mit seinem Roman "Alle Farben grau" nun ein starke Statement entgegen.

    "Ein Junge, der alles konnte, nur das Leben fiel ihm schwer", sagt Pauls Sportlehrer

    In seiner Geschichte heißt der Junge Paul, wie auch andere Figuren des Romans aus dem Umfeld Pauls fiktionalisiert wurden, um die Menschen, die sich Schäuble in vielen Gesprächen geöffnet haben, in der Anonymität zu lassen. Paul lebt in einer Familie mit zwei Schwestern und gut situierten Eltern, die das Wohl ihrer Kinder im Auge haben. Er ist ein gewitzter und intelligenter Jugendlicher, lernt Japanisch und hat ein Faible für Mathematik, die Popmusik der 80er Jahre und Doug Adams Roman "Per Anhalter durch die Galaxis". Ein Junge, "der alles konnte, nur das Leben fiel ihm schwer", sagt sein Sportlehrer nach der Beerdigung über ihn. Rhetorisch ist der Junge brillant, er argumentiert seine Mutter nieder, wenn er den Konfirmandenunterricht beenden will oder wenn er Freunden die Vorzüge des Kiffens gegenüber denen des Alkoholkonsums preist. 

    Martin Schäuble: Alle Farben grau. Fischer Verlag, 272 Seiten, 15 Euro. Ab 14 Jahre.
    Martin Schäuble: Alle Farben grau. Fischer Verlag, 272 Seiten, 15 Euro. Ab 14 Jahre. Foto: Fischer Verlag

    Die andere Seite von Paul, die die Welt für ihn in Grau taucht, scheut körperlichen Kontakt, zieht sich hinter einen Sonnenschirm zurück und hört eine innere Stimme, die ihm sagt, dass er nichts kann und nichts wert ist. Vom Austauschaufenthalt in Japan wird er zurückgeschickt, weil er sich den Großteil der Zeit in einem Schrank verkriecht und Selbsttötungsabsichten äußert. In der Akutstation der Jugendpsychiatrie wird schließlich, erst wenige Wochen vor seinem Tod, ein Asperger-Syndrom in Verbindung mit einer Depression diagnostiziert. "Er war für uns so, wie er war, wunderbar mit seinen charakterlichen Besonderheiten. Dass manche dieser Eigenschaften die Symptome einer psychischen Erkrankung hätten sein können, das war für uns damals unvorstellbar; darüber haben wir nie nachgedacht", wird seine Mutter später feststellen.

    Wie ein Puzzle setzt Schäuble die Eindrücke und Erinnerungen seiner Gesprächspartner zu einem literarischen Bild zusammen, er erzählt in Zeitsprüngen und aus den verschiedenen Perspektiven von Familie, Lehrern, Freunden, Leidensgenossen in der "Klapse" und auch aus der eigenen Sicht Pauls, wie sich der Junge aus dem Leben verabschiedet. Streckenweise liest es sich wie einer jener Coming-of-Age-Romane, die mit Situationskomik und Lakonie Pubertät unterhaltsam in Szene setzen. Bewusst habe er das Buch in diesem leichten Stil geschrieben, um ihm eine größere Leserschaft für dieses Thema zu verschaffen, als dies etwa bei einem Sachbuch der Fall gewesen wäre. "Ich will, dass man es, so seltsam das klingen mag, gern liest. Dass die Jugendlichen in die Geschichte eintauchen können und sich nicht scheuen, sich mit dem Thema auseinanderzusetzen", erklärt der Autor.

    Das Davor und das Danach trennen zwei schwarze Seiten im Buch, eine Leerstelle, in der sich Pauls Tod verbirgt. Aus gutem Grund habe er den Tod nicht explizit dargestellt, sagt Schäuble und verweist auf den "Papageno-Effekt", benannt nach jenem Vogelfänger in der Oper "Die Zauberflöte", der sich selbst töten möchte, durch Zuspruch und Zuwendung aber davon abkommt. Einen Suizid nicht zu romantisieren, dessen Methode im Dunkeln zu lassen und trotz der Tragik und Trauer einen positiven Ausblick zu setzen, das seien nach Forschungen wichtige Grundzüge, um Nachahmungstaten zu verhindern. Mit Alina, einem Mädchen, das Paul in der "Klapse" kennenlernt, endet "Alle Farben grau" mit einem Lächeln.

    Pauls Eltern gründeten "Tomoni", um über psychische Krankheiten aufzuklären

    Die ungeschönte, oft aber auch humorvolle Erzählweise ohne pädagogisierende Besserwisserei und Schuldzuweisung machen Schäubles Buch zu einer eindringlichen Lektüre, die man so schnell nicht vergisst und die einem vor Augen führt, wie ernst psychische Erkrankungen genommen werden müssen. "Keiner soll etwas verstecken müssen vor anderen, etwas verschweigen, sich für etwas schämen. Und niemand sollte die Schuld bei sich selbst suchen. ... Es ist an der Zeit, psychische Erkrankungen gesellschaftlich anzuerkennen und entsprechend zu handeln", sagt Pauls Vater am Ende des Buches.

    Er und seine Frau haben diese Konsequenz aus dem Tod ihres Sohnes gezogen. Sie gründeten ein gemeinnütziges Unternehmen, das sich der Aufklärung und der Schulung im Umgang mit psychischen Erkrankungen widmet. Dessen Name "Tomoni", das japanische Wort für "zusammen", ist eine Reminiszenz an Emil, der Japan so liebte, und ein Plädoyer dafür, einander beizustehen.

    Martin Schäuble: Alle Farben grau. Fischer, 272 Seiten, 15 Euro - ab 14 Jahre.

    Für die Verwendung in der Schule ist unter www.fischerverlage.de/verlag/kita-und-schule ein Unterrichtsmodell zu diesem Buch abrufbar. Informationen zu Tomoni unter www.tomonimentalhealth.org

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