Ist sie gesprungen oder ist sie gefallen? War sie unglücklich oder war sie unbedacht? Rio weiß es nicht, und eigentlich ändert es auch nichts an der Sache: Mavis ist weg - plötzlich und für immer. Er dagegen wird von nun an mit der Schuld leben müssen, der falsche Zwilling zu sein. Der, der noch am Leben ist. Der, der alleine nicht klarkommt. Der, der seinen Freunden schon wieder einen Sommer versaut, weil er selbst ein Jahr nach Mavis‘ Tod noch nicht über dieses Unglück hinweg ist. Rio, der Freak, haben sie ihn in der Clique genannt. Exakt so fühlt er sich und das wird auch nie mehr anders werden. Oder vielleicht doch?
Von Anfang an erzeugt Autorin Annika Scheffel ein düsteres Gefühl
Schon mit dem ersten Kapitel von „Alle Farben von Licht“ wird klar, dass das keine leichte Lektüre wird. Kein Sommer-Sonne-erste-Liebe-Roman, zumindest erst einmal nicht. „Fallen“ sind diese ersten Seiten überschrieben, und auch wenn es „nur“ eine Katze ist, die aus dem Fenster des fünften Stocks stürzt (und überlebt!), erzeugt Autorin Annika Scheffel gleich dieses düstere Gefühl. Hier ist ein Mensch an seine Grenzen gestoßen, hier lebt einer, der weg sein will.
Rio erlebt das ganze Auf und Ab eines trauernden Menschen. Er hat seine Zwillingsschwester verloren, die ihm am liebsten von allen war, die Einzige, der er je alles erzählen konnte. Es passierte ausgerechnet in der Nacht vor ihrem Geburtstag, die für die beiden immer so besonders gewesen war. Jedes Jahr hatten sie gemeinsam in einem Bett verbracht, hatten sich alles berichtet, was in ihrem Leben wichtig war. Rio hätte Mavis auch in dieser Nacht etwas Wichtiges erzählen wollen. Stattdessen liegt er stundenlang wach, wartet, wird wütend, weil Mavis ihn versetzt hat. Weil sie gefallen ist. Gefallen und gestorben. Doch das wird Rio natürlich erst später klar.
Der Leser empfindet großes Mitgefühl für Rio
„Alle Farben von Licht“ beschreibt diesen Verlust so eindringlich, dass man als Leser tiefes Mitgefühl für Rio entwickelt. Das Buch beginnt an seinem Geburtstag. Ein Jahr ist seit dem Tod seiner Schwester vergangen, und während seine Freunde zunächst noch mit ihm fühlten, verlieren sie langsam die Geduld mit diesem Jungen. Irgendwann muss er doch wieder „in die Spur“ kommen, „das Leben geht weiter“, „Mavis hätte nicht gewollt, dass es dir so geht“. Rio kann diese Sprüche nicht mehr hören. Weil er seine Freunde nicht mehr belasten will und weil er nicht immer lachen kann, wenn ihm eigentlich zum Weinen zumute ist, zieht er sich zurück.
Unter Mavis‘ Tod leidet die ganze Familie. Rios Eltern hatten eigentlich schon genug damit zu tun, sich als erfolglose Musiker über Wasser zu halten. Der Verlust ihrer Tochter überschattet diese Sorge zwar, doch irgendwie versuchen sie zu funktionieren - und vergessen dabei, dass sie immer noch Rio haben. Das Familienleben ist zu einer Falle geworden. Keiner spricht hier seine Gefühle aus, vor lauter Angst, den anderen noch mehr zu verletzen. Also lebt man in einer oberflächlichen „Es geht doch alles weiter“-Atmosphäre, in der jeder seinen Kummer nur hinter verschlossenen Türen zeigt und hofft, dass es die anderen nicht merken. Jeder, der Familie hat, kennt solche verminten Gebiete, um die man sich im Lauf der Zeit herumzulavieren lernt.
„Alle Farben von Licht“ ist ein hoffnungsfrohes Buch
Doch so düster dies klingen mag: „Alle Farben von Licht“ ist auch ein hoffnungsfrohes Buch, eines, das einen vor allem eines lehrt, so platt es klingt: Die Zeit heilt alle Wunden. Die Zeit und jene Menschen, die an einen glauben. Für Rio beginnt diese Erkenntnis, als er unter dem Bett von Mavis ihre analoge Kamera entdeckt. Der Film steckt noch drin, Mavis lässt ihn entwickeln und bekommt eine Papiertasche voller Bilder zurück, die fremde Menschen und fremde Orte zeigen. Wo und warum hat seine Schwester diese Bilder gemacht? Auf der Suche nach Antworten kommt Rio ausgerechnet dieser seltsame Junge aus dem Hinterhaus zu Hilfe, der aussieht wie ein Vampir und manchmal mit zwei Plastiktüten durch die Anlage streift. Ein Freak, denkt Rio. Ein Freak wie er.
Annika Scheffel hat viel in ihre Geschichte hineingepackt: Essstörungen, Bettnässen, psychische Belastung, Schlägereien, Verzweiflung … Als Leser ist man manchmal kurz geneigt, „nicht auch noch das“ zu denken. Dennoch ergibt sich eine flüssige, wunderbare Geschichte, die ganz zum Schluss auch wieder Leichtigkeit gewinnt. Absolut lesenswert.
Annika Scheffel: Alle Farben von Licht. Carlsen, 480 Seiten, 17 Euro - ab 14 Jahren
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