"Wait for nods" (Warte, bis dir einer zunickt) war das Einzige, was in den Noten stand. Also musste der Klavierpart bei der Uraufführung der "Rhapsody in Blue" improvisiert werden, was kein großes Problem für den Pianisten gewesen sein dürfte: George Gershwin hatte das Stück selber komponiert. Und das innerhalb von nur fünf Wochen, nachdem Bandleader Paul Whiteman in der New York Tribune am 3. Januar 1924 unter dem Titel „What is American Music?“ eine Jazzkomposition von George Gershwin angekündigt hatte und so den zaudernden Komponisten mehr oder weniger sanft zur Zusage bewog.
Der Bandleader und Geiger Whiteman hatte eine klassische Musikausbildung, liebte aber den Jazz. In seinem Musikstil vermengte er beides, und mit seinem erfolgreichen Orchester des Fairmont Hotels, das er seit 1918 leitete, konnte er angesagte Jazzmusiker engagieren wie Bix Beiderbecke, Bing Crosby, Frank Trumbauer oder Joe Veruti. Neu war dabei die symphonische Orchesterbesetzung auch mit Streichern, und es entstand "Symphonic Jazz", eine Fusion von Jazz und Klassik, sozusagen die Antwort auf Whitemans Artikelüberschrift in der New York Tribune, die Gershwins Jazzkomposition ankündigte.
Gershwin konmponierte die "Rhapsody in Blue" unter Hochdruck
Seinen Ursprung hatte der Symphonic- oder Orchestral Jazz, der sich in den 20ern in New York City entwickelte, im afroamerikanischen New Orleans Jazz. Wollte Paul Whiteman mit seinem Konzert, das er "An Experiment in Modern Music" betitelte, eine amerikanische Klassik schaffen, so geschah das auf dem Rücken anderer: Als "Befreiung des Jazz aus der Sklaverei" sollte es in die Musikgeschichte eingehen, wobei nicht ganz klar ist, wie das zu verstehen war. Recht wohl fühlte sich auch Gershwin nicht, aber aus anderen Gründen: "Ich weiß aber nicht, ob es noch Jazz sein wird, wenn diese Arbeit beendet ist." Viel Zeit zum Grübeln hatte er nicht. Fünf Wochen lang komponierte er unter Hochdruck und übergab die fertigen Notenblätter sogleich Whitemans kongenialem Arrangeur Ferde Grofé, der währenddessen bei ihm wohnte, zur Orchestrierung – eine Kunst, in der Gershwin noch kaum Erfahrung besaß.
Acht Tage vor der Premiere, war die "Rhapsody in Blue", die ihren Namen Gershwins Bruder Ira verdankt und auf die Blue Notes des Blues anspielt, startbereit. Am 12. Februar 1924 fand in der New Yorker Aeolian Hall – eigentlich ein Klassik-Konzertsaal – die Uraufführung statt. Der Publikumsandrang war riesig und prominent: Unter den Zuhörern saßen unter anderem Rachmaninow, Strawinsky, Schönberg, Bloch, Stokowski, Mengelberg, Kreisler, Heifetz, Damrosch, Sousa und Jerome Kern.
Nebenbei lernte Gershwin, wie Hits funktionieren
Der Abend gilt als historisch. Für Whiteman und Gershwin war der Triumph ein Durchbruch. Denn bisher war der 25-jährige Komponist ein Geheimtipp gewesen. Als zweiter Sohn des Ehepaars Gershowitz, das 1891 aus dem zunehmend antisemitischen Russland ausgewandert war, lernte er zunächst autodidaktisch Klavier, ab 14 Jahren bei seinem langjährigen Lehrer und Mentor Charles Hambitzer. Mit 16 wurde er der jüngste Song Plugger in der legendären Tin Pan Alley des Broadway, und sein Job war die klingende Werbeanzeige: Song Plugger spielten, buchstäblich im Akkord, in Kaufhäusern, Musikläden, am Klavier alles, was ihnen vom Verkäufer gereicht wurde, um diese Musik an den Mann zu bringen; und das bis zu zehn Stunden täglich. So lernte Gershwin en passant, wie Hits funktionierten.
Die Idee zu seiner "Rhapsody" kam ihm allerdings nicht auf dem Zwischengeschoss eines Muskalienhandels, sondern während einer Zugfahrt nach Boston. Tatsächlich hat er in der "Rhapsody" auf seiner musikalischen Reise durch die Musikstile auch das Rattern und Pfeifen der Eisenbahn verewigt, neben Elementen aus Blues, Romantik und Impressionismus. Als George Gershwin am 11. Juli 1937 mit nur 38 Jahren an einem Gehirntumor stirbt, ist er einer der bedeutendsten Komponisten Amerikas: "Musik war für ihn die Luft, die er atmete, die Speise, die ihn nährte, der Trank, der ihn erfrischte. Musik war das, was sein Gefühl erweckte, und die Musik war das Gefühl, das er ausdrückte …", so Arnold Schönberg in seinem Nachruf auf den Kollegen und Freund.