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Jan Philipp Reemtsma spricht über Arno Schmidt

Interview

"Wirklich bedeutende Autoren werden nicht langweilig"

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    Der Literaturwissenschaftler Jan Philipp Reemtsma gehört zu den großen Förderern von Arno Schmidt und pflegt und bewahrt bis heute dessen Nachlass.
    Der Literaturwissenschaftler Jan Philipp Reemtsma gehört zu den großen Förderern von Arno Schmidt und pflegt und bewahrt bis heute dessen Nachlass. Foto: Martin Schutt, dpa

    Herr Reemtsma, das von Ihnen gegründete und finanzierte Hamburger Institut für Sozialforschung hat nicht nur Wissenschaftsgeschichte geschrieben, sondern auch in die Breite eine enorme Wirkung entfaltet, zum Beispiel mit der Wehrmachtsausstellung 1995, die die Verbrechen der Wehrmacht im Zweiten Weltkrieg im kollektiven Bewusstsein verankert hat. Warum haben Sie beschlossen, das Institut in vier Jahren zu schließen?
    JAN PHILIPP REEMTSMA: Das Institut ist geworden, was es war und ist, aufgrund der besonderen Konstellation der Identität von Finanzier und Leiter – oder von Finanzier und einer Leitung, die wesentlich freie Hand hatte. Das ist eine Konstellation, die sich – ich bin über 70 Jahre alt – über den Tod hinaus nicht fortsetzen lässt. Das Institut würde, selbst wenn es in einer anderen Konstellation weitergeführt werden könnte, nicht mehr das Institut sein, dessen Ende man zu bedauern meint, sondern nur noch den Namen weitertragen. Das braucht es nicht.

    Wie gehen Sie mit der Kritik an dieser Entscheidung – auch von wissenschaftlicher Seite – um? 
    REEMTSMA: Die Kritik kam von Leuten, die über die Sache geredet und nicht zureichend durchdacht hatten. 

    Wechseln wir zum Mäzen der Literatur. Sie haben nicht nur das Hamburger Institut für Sozialforschung finanziert, sondern sind auch als Förderer in der literarischen Welt aufgetreten, besonders bei der Pflege der Werke von Christoph Martin Wieland und von Arno Schmidt. 1977, als Sie Ihr Erbe der Reemtsma Cigarettenfabriken noch nicht angetreten hatten, haben Sie dem Schriftsteller Arno Schmidt den Gegenwert eines Nobelpreises vermacht. Wie kam es dazu? 
    REEMTSMA: Ich wollte das tun, weil es nicht so viele Leute gab (und heute in einem ähnlichen Fall gäbe), die so etwas tun konnten und gleichzeitig genügend von Literatur verstanden, um auf die Idee zu kommen, es zu tun. Das schien mir Grund genug zu sein. 

    Arno Schmidt war ein genialer Schriftsteller, der immer auch von der Lebensnot geplagt war. Jemand, der trotzdem Bücher schrieb, die so anspruchsvoll, avantgardistisch und geistreich waren, dass das nur ein kleiner Kreis von Leserinnen und Lesern zu schätzen wusste. Wie trat Arno Schmidt in Ihr Leben? Und warum erlangte er da eine solche große Bedeutung? 
    REEMTSMA: Ich habe irgendwann Werke von ihm gelesen – und dann alles, was zu der Zeit erhältlich war. Schmidt ist ein Solitär in der deutschsprachigen Nachkriegsliteratur. Um nur einen Aspekt zu nennen: Kein anderes Werk hat eine so realistische Schilderung des bundesrepublikanischen Alltagsdetails in Verbindung mit so großer poetischer Intensität.

    Bis heute sind Sie Vorsitzender der Arno-Schmidt-Stiftung. Noch immer sind Sie ein großer Vermittler der Schmidt-Werke. Wieso ist Ihnen Schmidt nie langweilig geworden? Woher rührt diese Treue? 
    REEMTSMA: Eben daher. Wirklich bedeutende Autoren – angefangen mit Homer und mit Thomas Mann und Arno Schmidt nicht endend – werden nicht langweilig. 

    Die Arno-Schmidt-Stiftung bewahrt den Nachlass des Schriftstellers auf. Dazu gehört nicht nur das, was er geschrieben hat, sondern auch das, was er getragen hat, wie im Augsburger Textilmuseum in der Ausstellung „Kleider. Geschichten. Der textile Nachlass von Arno und Alice Schmidt“ zu sehen ist. War Ihnen bewusst, was für einen Schatz Sie da in der Stiftung über Jahrzehnte bewahrt haben? 
    REEMTSMA: Nein, zunächst nicht. Eine Expertin, die wir befragt hatten, sagte uns, daß dies eine einzigartige Sammlung sei: von der zweiten Hälfte der 40er Jahre bis zum Ende der 70er – kleinbürgerliche Konfektionskleidung gewissermaßen ohne zeitliche Lücken – denn das Ehepaar Schmidt hat nahezu nichts weggeworfen. Sicher auch aus der Erfahrung der Nachkriegszeit, wo die beiden, als es anfing wieder aufwärts zu gehen, ein äußerst ärmliches Leben führten. Der Beruf des Schriftstellers bedeutete extreme Einschränkungen. Drum zu Anfang etwa aus Zuckersäcken selbst geschneiderte Blusen. 

    Was lässt sich aus dem Kleidernachlass herauslesen? 
    REEMTSMA: Zunächst eben dieses – Armut. Schmidt nahm seinen ersten Literaturpreis entgegen, ohne ein taugliches Oberhemd zu haben, er hielt seine Jacke oben mit der Hand zu, damit man es möglichst nicht merkte. Insgesamt ist es ein Stück Kulturgeschichte der Bundesrepublik, ganz unabhängig davon, wem die Kleidungsstücke gehört haben. Da Schmidt – er war nach dem Abitur Lagerbuchhalter in einem Textilwerk – einiges von Stoffen verstand, gibt es in Alltagsbeschreibungen und in seinen Naturbeschreibungen (metaphorisch) allerlei Textiles. Wir haben die Ausstellungsstücke mit Zitaten aus dem Werk verbunden.

    Sie sagen von sich, dass Sie Philologe im Sinn des Worts sind – ein Leser auf der Suche nach Bedeutung. Aufgewachsen sind Sie als Sohn eines Hamburger Großunternehmers. Wie sind Sie in diesem Umfeld zu einem solchen Leser geworden? 
    REEMTSMA: Es gab eine Bibliothek im Haus. 

    Ihr Name ist immer auch mit Ihrer Entführung im Jahr 1996 verbunden. Wie blicken Sie heute darauf zurück? 
    REEMTSMA: Wer etwas darüber erfahren möchte, den verweise ich auf mein Buch „Im Keller“.

    Zur Person

    Jan Philipp Reemtsma, 1952 in Bonn geboren, ist ein Literatur- und Sozialwissenschaftler – und ein bedeutender Mäzen. Er hat das Hamburger Institut für Sozialforschung gegründet und finanziert – und bewahrt und pflegt mit der Arno-Schmidt-Stiftung den Nachlass des Schriftstellers. Am Donnerstag, 6. Juni, liest er um 19 Uhr im Augsburger Textilmuseum aus Arno Schmidts "Brand's Haide". Die Lesung findet im Rahmen der Sonderausstellung "Kleider. Geschichten. Der textile Nachlass von Arno und Alice Schmidt" statt, die noch bis 13. Oktober zu sehen ist.

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