Frau Doron, ich erreiche Sie in Ihrer Wohnung in Tel Aviv. Wie haben Sie die Nacht verbracht? Gab es erneute Raketenangriffe? Konnten Sie schlafen?
LIZZIE DORON: Es liegt nicht an den Sirenen oder Raketen, dass ich nicht schlafen kann, sondern an der ganzen Situation. Wissen Sie, Sirenen sind Teil unseres Lebens und ich habe Glück, denn wir haben einen Schutzraum direkt in unserem Haus. Aber wir haben so viele andere Probleme, Sorgen, Ängste, so viel offene Fragen. Alles ist zerbrochen, unsere Selbstidentität, unsere Gefühle, unsere Visionen. Um es als Metapher auszudrücken: Wenn das Glas das erste Mal zerbricht, kann man es mit einem Kleber reparieren. Aber wenn man dieses Glas wieder und wieder zerbricht, hat man einen Scherbenhaufen, man kann nichts mehr aufbauen. Wir müssen gewissermaßen wieder bei null anfangen.
Das bedeutet, Sie haben alles Vertrauen in Ihr Land verloren?
DORON: Ich habe das Gefühl, dass ich jetzt ein Flüchtling in meinem eigenen Land bin. Ich habe keine politischen Führer, auf die ich mich verlassen kann. Ich bin mir nicht sicher, ob die Armee stark genug ist. Worauf ich vertraue, ist die Zivilgesellschaft, die Menschen, die liberal sind, die für Gleichheit, für Redefreiheit kämpfen, auch wenn sie in diesem Land, in dem sich immer mehr Menschen einen jüdischen und keinen säkularen Staat wünschen, nicht mehr die Mehrheit sind. Ich möchte Ihnen eine kurze Geschichte von heute Morgen erzählen, damit Sie sich eine Vorstellung von der Situation machen können. Es war ein kurzes Gespräch mit meiner Tochter, während sie auf dem Weg ins Krankenhaus war. Sie ist Ärztin. Sie rief mich an und sagte: "Mama, ich erinnere mich, dass du uns erzählt hast, wie deine Mutter zu dir als 15-Jährige sagte, dass alle optimistischen Menschen in Auschwitz gestorben sind. Du hast das damals nicht verstanden und sie gefragt, wie sie das meint. Und dann hat sie gesagt: Alle Pessimisten sind weggerannt. Du solltest dein ganzes Leben lang pessimistisch sein." Und dann hat mich meine Tochter am Telefon gefragt: "Mama, vielleicht ist es jetzt an der Zeit? Ich habe drei Kinder. Wir haben keine anderen Pässe, nur den israelischen. Kannst du deine deutschen Freunde fragen, ob sie uns Obdach geben? Sollen wir rennen?" Wissen Sie, wir sind Menschen mit vielen Traumata, Menschen, die nicht nur einen konkreten Zufluchtsort brauchen, sondern auch die Idee eines Zufluchtsortes, eines Schutzraums. Aber was soll ich meiner Tochter sagen? Nimm deine Kinder und geh weg? Wohin? Und dann habe ich ein paar meiner Freunde in Deutschland angerufen und gefragt, ob sie irgendeine Möglichkeit sehen.
Sie haben als junge Soldatin 1973 den Jom-Kippur-Krieg erlebt ...
DORON: ... ich zählte zu den Soldaten, die von den Golanhöhen fliehen mussten, weil die syrischen Truppen hinter uns und die Flugzeuge über uns waren. Ich erinnere mich also auch aus eigener Erfahrung an den Moment, als ich um mein Leben rennen musste.
... Sie haben damals Ihre besten Freunde verloren, wie Sie im Buch "Sweet occupation" beschreiben: "Man hatte meine Kindheit verbrannt, meine Jugend, meine Seele." Aber dennoch sind Sie zur Aktivistin geworden, sind gemeinsam mit Palästinensern gegen die Besetzung und für eine friedliche Lösung des Konflikts eingetreten. Haben Sie gerade Kontakt zu Ihren palästinensischen Freunden?
DORON: Ich habe sehr gute palästinensische Freunde. Sie sind wie eine Familie. Wir haben nicht dieselbe Religion, nicht dieselbe Nationalität, aber dieselben Werte. Ich weiß, dass sie wie ich fühlen und dass sie mit mir sind. Aber jetzt muss gerade jeder seine Wunden heilen, seine Angst. Jetzt ist die Zeit des Schweigens. Niemand weiß ja auch, was er dem anderen sagen soll. Wissen Sie, es ist so ähnlich, wie wenn Ihnen jemand erzählen würde, er habe gleichzeitig Krebs, einen Herzinfarkt und Parkinson. Was kann man da raten? Ein Freund hat mir diese theoretische Frage gestellt und ich habe geantwortet: Am besten macht man erst einmal gar nichts, bleibt zu Hause, nimmt sich Zeit zum Nachdenken. Man kann nicht alles auf einmal heilen. Das ist vermutlich der Grund, warum wir uns gerade nicht anrufen.
Der neue Terror, das Massaker an Zivilisten, bedeutet das vorerst das Ende für die Friedensbewegung?
DORON: Es reicht nicht, dass Menschen der Friedensbewegung vorangehen. Sie sollte ein Ziel, eine Vision von Regierungen sein. Aber in diesem zerrütteten Zustand, in dem wir uns jetzt befinden, glaube ich, dass wir nach dem Krieg erst einmal einen Bürgerkrieg haben werden zwischen denen, die an die Demokratie glauben, und denen, die eine religiöse Diktatur wollen. Und der Frieden ist in gewisser Weise nicht auf dem Tisch. Wir müssen erst einmal unsere Identität wieder aufbauen.
Ministerpräsident Netanjahu hat Vergeltung und einen langen Krieg angekündigt.
DORON: Israel muss jetzt kämpfen. Wir müssen die Hamas besiegen, aber wir sollten uns nicht von emotionalen Gefühlen treiben lassen und dem Bedürfnis nach Rache. Wir müssen eine Strategie entwickeln. Ich glaube aber nicht, dass unsere Regierung dazu in der Lage ist.
Sie sind Schriftstellerin, schreiben Sie gerade, zum Beispiel Tagebuch?
DORON: Kein einziges Wort. Ich sitze wie ein Zombie vor dem Fernseher. Das passiert zum ersten Mal in meinem Leben. Normalerweise schreibe ich von Morgens bis Nachts. Aber ich schaue gerade nur fernsehen, das ist alles. Ende dieser Woche aber werde ich in Deutschland sein, um mein neues Buch vorzustellen. Ich war mir unsicher, soll ich meine Tochter hier mit den Kindern zurücklassen? Aber meine Tochter hat mich gezwungen. Also fliege ich und ich werde meine Stimme erheben. Wir haben gedacht, dass wir nach dem Holocaust nie mehr solch ein Massaker erleben werden. Wo aber sind die Menschen, die für unser Leben verantwortlich sind? Ich habe keine Antwort im Moment auf diese Frage und wir haben keine Antwort mehr auf die Frage, wer wir sind. Wissen Sie, wenn Sie mich heute nach meiner Identität fragen, dann werde ich vielleicht sagen, dass ich eine Schriftstellerin bin, die ihre Stimme erhebt, wann immer sie kann, auf jedem Podium. Aber was ich nicht fühle: dass ich noch eine Heimat habe. Aber wenn man die Brutalität dieses Massakers sieht, wenn man die Entwicklung auf der Welt sieht, die zunehmende Brüchigkeit von Demokratien, muss man überdenken, ob es richtig ist, nur eine Heimat zu haben, oder ob nicht jeder Mensch drei oder vier haben sollte – für den Fall.
Wie meinen Sie das?
DORON: Ich denke, dass die Vereinigten Staaten von Amerika mit Trump uns ein wunderbares Bild gegeben haben, um zu verstehen, dass wir überall in Gefahr sind. Demokratie ist nicht mehr selbstverständlich. Ich glaube, die liberalen Menschen, die an Demokratie glauben, sollten sich zusammentun und eine globale Organisation aufbauen – eine Art alternative Heimat. In Israel haben jene Gruppen, die Demonstrationen gegen die Diktatur organisiert haben, sich mit Menschen solidarisiert, die in Polen, in Ungarn oder in Brasilien für die Freiheit kämpfen. Vielleicht können wir eine Art virtuelle Macht aufbauen, um diese Menschen zu stärken, denn die liberale, die demokratische Bewegung ist im Moment die zerbrechlichste auf der Welt.
Sie haben eine Wohnung in Tel Aviv, aber auch ein Zuhause in Berlin. Wo sehen Sie Ihre Zukunft?
DORON: Ich sehe meine Zukunft in Flugzeugen zwischen Berlin und Tel Aviv. Ich weiß nicht, wie die Situation in Israel in Zukunft sein wird, speziell auch für mich, weil ich eine Linke und Friedensaktivistin bin und daher in gewisser Weise in Israel eine Persona non grata. Nicht offiziell, aber meine Bücher werden in Israel nicht mehr veröffentlicht, seitdem ich nicht mehr über die zweite Generation, die Kinder der Überlebenden des Holocaust, schreibe, sondern auch über meine Freundschaft zu Palästinensern. Ich kann meine Stimme in Israel nicht mehr erheben. Hier bin ich eine großartige Köchin und Großmutter. Ich glaube, sogar viele meiner guten Freunde haben keine Ahnung, was ich in Deutschland mache, dass dort meine Bücher veröffentlicht werden und ich Teil des kulturellen Lebens bin. Auch wenn ich nur den israelischen Pass habe, ist Deutschland in gewisser Weise mein Schutzraum und ich hoffe irgendwann auch für meine ganze Familie. Mein Sohn lebt bereits in Berlin und ist sicher. Zumindest einer sollte gerettet werden, hat meine Mutter gesagt.
Zur Person
Die Schriftstellerin, geboren 1953 in Tel Aviv, war in Israel gefeiert als Stimme der sogenannten "Zweiten Generation", der Kinder von Überlebenden der Schoah. Wie das Leid der Eltern ihre Kinder prägte, davon handeln ihre ersten Romane - und welch Leid ihre Generation erlebte. Doron ist Friedensaktivistin, als sie begann, von ihren Freundschaften zu Palästinensern zu schreiben, fand sie in Israel keinen Verlag mehr. Die Autorin lebt in Tel Aviv und Berlin. Gerade ist bei dtv ihr neuster Roman "Nur nicht zu den Löwen" (192 Seiten, 23 Euro) erschienen.