Jeder kennt Sie als Jazzpianist, sogar als einen der renommiertesten in Deutschland. 2011 wurden Sie mit dem Echo Jazz ausgezeichnet, Ihr jüngstes Soloalbum „Sixteen Pieces Of Piano“ sorgte für begeisterte Kritiken. Seither fiel jedoch auf, dass es Tim Allhoff offenbar verstärkt in Richtung Klassik drängt. Nun überraschen Sie Ihre Fans mit einem Werk, das den Titel „Morla“ trägt und nirgendwo richtig zu verankern ist. Darf man Sie noch als Jazzpianist bezeichnen oder ist das inzwischen zu kurz gedacht?
Tim Allhoff: Zu kurz gedacht trifft es ganz gut. Ich tue mich immer schwerer damit, mein künstlerisches Schaffen in ein bestimmtes Genre einzupassen. Damit hatte ich eigentlich schon von Beginn meiner Karriere an Probleme, weil ich durch meine klassische Ausbildung auf dem musischen Zweig des St.-Stephan-Gymnasiums in meiner Heimatstadt Augsburg auch die andere Seite der Musik kennenlernen durfte. Später habe ich am Konservatorium in München eben meinen Abschluss als Jazzpianist gemacht. Aber warum muss man sich in bestimmte Schubladen stecken lassen und bestimmte Erwartungshaltungen erfüllen? Ich war schon immer an sehr unterschiedlichen Musikstilen interessiert. In meiner Playlist konnten die Englischen Suiten von Bach auftauchen, gefolgt von Radiohead, den Beatles und Miles Davis.
All diese multiplen Interessen bilden Sie nun auf „Morla“ ab.
Allhoff: Richtig. Es ist ein Album geworden, an dem noch das mehrfach ausgezeichnete Leonkoro Streichquartett aus Berlin sowie der Violinist Niklas Liepe teilnehmen. Ich spiele sozusagen zum ersten Mal „Klassik-Klassik“, wobei sich meine eigenen Kompositionen irgendwo zwischen Jazz und Klassik orientieren. Ich würde mich freuen, wenn man es einfach „Musik“ nennen würde, die eben auf dem Klavier entstanden ist.
In den vergangenen Jahrzehnten gab es immer wieder Versuche, Klassik und Jazz miteinander zu verbinden, wobei die Projekte meistens kläglich scheiterten. Auf der einen Seite gab es die sogenannte Jazzpolizei, auf der anderen die Klassikpuristen, die es als Sakrileg betrachteten, wenn jemand einen Satz von Robert Schumann aus dem „Album für die Jugend“ als Ausgangspunkt für Improvisationen verwendet und ihn dann „Schumann Exploration“ nennt. Sie haben das getan. Wollen Sie damit provozieren?
Allhoff: Nein! Ich möchte vielmehr damit beweisen, dass Schumanns Musik wirklich zeitlos ist. Ich denke, ihm selbst hätten die „Schumann Explorations“ gefallen. Ähnlich verhält es sich auch mit Felix Mendelssohn-Bartholdys „Schäfers Klagelied (op. 67/5)“, Johann Sebastian Bachs Orgelsonate IV oder der Jazzballade „In The Wee Small Hours Of The Morning“, die unter anderem Frank Sinatra gesungen hat. Die beiden Lager stehen sich aus meiner Sicht keineswegs mehr so feindlich gegenüber, wie dies vielleicht früher der Fall war. Die Offenheit hat sowohl in der Klassik wie im Jazz spürbar Einzug gehalten, das Interesse am jeweils anderen ist deutlich gewachsen. Deshalb muss es keine Seltenheit mehr sein, wenn klassische Pianisten ein angejazztes Stück als Zugabe präsentieren. Wer sollte sich heute noch darüber aufregen, wenn jemand über Mozarts „Alla Turca“ improvisiert? Selbst das Klassik-Publikum nimmt so etwas inzwischen begeistert entgegen. Natürlich wird es auf beiden Seiten weiter die Hüter der reinen Lehre geben, aber davon sollten wir uns nicht irritieren lassen.
Was soll diese offene Musik dann bewirken?
Allhoff: Sie soll berühren und Emotionen wecken. Letzten Endes ist es das, worum es bei Musik wirklich geht.
Wie die weise, gigantische Schildkröte Morla aus Michael Endes „Unendlicher Geschichte“, die einsam in den Sümpfen der Traurigkeit lebt und jahrtausendealte Geschichten aus der ganzen Welt kennt. Geht es dabei auch um einen Appell zum größeren Denken in der Musik?
Allhoff: Schöner Gedanke! Wobei das Titelstück weitaus früher entstand, nämlich während der Pandemie, bevor mir überhaupt die Idee für das Konzept dieses Albums in den Sinn kam. Denn darin ging es mir vor allem um Bilder, um Gedanken an meine Kindheit. Damals spielte die „Unendliche Geschichte“ eine wichtige Rolle. Morla, dieses weise Wesen, verbinde ich vor allem mit Ursprung und Ewigkeit.
Die Schildkröte ist bekannt für ihre weisen Ratschläge. Sie ist etwas schrullig, spricht über sich selbst im Plural, ist eine Denkerin, die ihre Gedanken über lange Zeit reifen lässt. Sie ist Berg und Prophet in einem. Also eine Allwissende. Und eine Alleskönnerin. Wie viel Morla steckt in Ihnen?
Allhoff: (lacht) So groß bin ich nicht und hoffentlich auch nicht so schrullig. Aber es gibt in der Tat einige Bezugspunkte, vor allem was die Musik ohne Schubladen anbelangt. Im Stück „Morla“ kann man Einflüsse von Brahms oder Schubert genauso wie aus dem Jazz finden. Es ist sozusagen ein Pars pro Toto meines gesamten Spektrums als Komponist und Pianist.
Wir erleben also ein Kaleidoskop Ihrer eigenen Einflüsse, die bei der Klassik, bei Jazz, aber auch ganz woanders liegen können.
Allhoff: Selbst nach über 30 Jahren registriere ich erstaunt, wie sehr mich meine Augsburger Zeit geprägt hat, die klassische Harmonik- und Formenlehre, der Anschlag, und das, obwohl ich immer schon andere Arten von Musik nebenbei hörte – Jazz, Pop, Rock. Der Opener „Death With Dignity“ stammt zum Beispiel vom amerikanischen Songwriter Sufjan Stevens, den ich sehr verehre. Es sind wohl Zwischenwelten, die ich suche. Sie bestehen aus unterschiedlichsten Einflüssen und Klangfarben, die ich ganz bewusst aufbrechen wollte. Das gesamte Album ist wie ein Fingerabdruck.
Erleben wir Sie eigentlich noch einmal als Jazzpianist, etwa im Trio, oder gehört das endgültig der Vergangenheit an?
Allhoff: Weiß ich nicht. So, wie es gerade ist, gefällt es mir. Es hat sich einfach so ergeben, ohne bewussten Vorsatz oder Plan. Schon mit den „Sixteen Pieces Of Piano“ ging es kompositorisch klar in Richtung Solopiano. Ganz auf das Klavier zurückgeworfen zu sein, auf dieses Reduzierte, da fühle ich mich gerade sehr wohl dabei. Auch die Zusammenarbeit mit klassischen Künstlern wie Fatma Said möchte ich gerne fortsetzen. Wir haben gerade ihr zweites Album aufgenommen.
Viele kennen den Pianisten, aber auch der Fotograf Tim Allhoff ist längst kein Unbekannter mehr. Reichen Ihnen die 88 Elfenbeintasten nicht mehr als kreatives Ventil?
Allhoff: Das Fotografieren fing bei mir vor zehn Jahren als Hobby an, wurde aber dann ganz allmählich zur echten Leidenschaft. Mittlerweile stellt die Arbeit hinter der Kamera eine Art zweites künstlerisches Standbein für mich dar. Sie erfüllt mich auf eine Art und Weise, die völlig anders ist als die Musik. Ich liebe es zum Beispiel sehr, Künstler abzubilden, eine bestimmte Seite von ihnen zu zeigen. Vielleicht gelingt einem das ja besser, wenn man so etwas selbst aus den Augen eines Künstlers sieht.
Gibt es noch Bezüge zu Ihrer alten Heimat? Sie sind ja vorübergehend nach Berlin gezogen …
Allhoff: … aber mittlerweile wieder nach München zurückgekehrt. Der Weg nach Augsburg ist von da aus ein Katzensprung. Ich habe hier knapp 30 Jahre meines Lebens verbracht, das prägt ungemein. Meine Familie lebt nach wie vor in der Gegend um Friedberg, viele meiner engsten Freunde sind noch da. Wir planen auch ein Releasekonzert in Augsburg. Wann und wo, wird in Kürze bekannt gegeben.