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Interview: Regisseur Jean-Pierre Jeunet: "Bei Amélie lief alles so problemlos"

Interview

Regisseur Jean-Pierre Jeunet: "Bei Amélie lief alles so problemlos"

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    Als „Amélie“ (hier Hauptdarstellerin Audrey Tautou) 2001 in die Kinos kam, wurde der Film vom Festival in Cannes schlichtweg übersehen – eine glatte Fehlleistung.
    Als „Amélie“ (hier Hauptdarstellerin Audrey Tautou) 2001 in die Kinos kam, wurde der Film vom Festival in Cannes schlichtweg übersehen – eine glatte Fehlleistung. Foto: Studiocanal; Etienne Laurent, dpa

    Es gibt Regisseure, die es nicht ertragen können, ihre alten Filme anzusehen. Aber Sie scheinen damit keine Schwierigkeiten zu haben, nachdem Sie eine restaurierte Fassung Ihrer „Amélie“ herausgebracht haben.

    Jean-Pierre Jeunet: Ich scheine der einzige Regisseur zu sein, dem es so geht. Denn dieser Film ist wie ein schönes Souvenir. Wenn ich ihn sehe, mich an die gute Zeit erinnere, die ich bei den Dreharbeiten hatte. Natürlich entdecke ich auch Schwächen in manchen Einstellungen, aber manches gefällt mir auch.

    Warum war das eine so angenehme Erfahrung?

    Jeunet: Weil alles so leicht von der Hand ging. Ich hatte vorher in Hollywood an „Alien – Die Wiedergeburt“ gearbeitet, und da hat nichts funktioniert. Jeden einzelnen Tag gab es da Schwierigkeiten. Bei „Amélie“ lief alles so problemlos, dass ich mich fast langweilte.

    „Amélie“ verstrahlt ja sehr viel Optimismus und Menschenfreundlichkeit. Ist ein Film mit so einer positiven Botschaft heute noch denkbar?

    Jeunet: Ich bin mir nicht sicher. Ich selbst würde mich ja eher als Pessimisten bezeichnen beziehungsweise als aufgeklärten Optimisten. Aber auch damals war das Konzept ziemlich ungewöhnlich. Sogenannte Wohlfühl-Filme waren nicht gerade en vogue. Einerseits ist die Welt mit den ganzen Sozialen Medien und all ihren Hatern seither zynischer geworden, andererseits sind die Menschen im Grunde ihres Herzens gut, sogar Putin … – oder lassen Sie mich das korrigieren: mit Ausnahme Putins. Allerdings ist nicht klar, ob der Film wieder ein derartiger Erfolg werden würde.

    Hatten Sie das seinerzeit in irgendeiner Weise erwartet?

    Jeunet: Absolut nicht. Ich dachte mir, wer mag schon diese dumme Geschichte? Ständig hatte ich Zweifel. Bei der ersten Testvorführung hatten wir 40 Leute, und die mochten den Film. Aber ich dachte mir, mehr als diese 40 werden wir nicht damit erreichen.

    Das Festival von Cannes lehnte „Amélie“ ja auch ab.

    Jeunet: Was sich als großes Geschenk herausstellte. Denn das war wunderbar für die Werbung. Letztes Jahr wurde der Film bei einer öffentlichen Vorführung am Strand gezeigt, und Festivalchef Thierry Frémaux hat ihn bei seiner Einführungsrede als Klassiker angepriesen. Das war eine Art von Entschuldigung.

    Seither gelten Sie als „Regisseur von Amélie“, denn ein Erfolg dieser Größenordnung ist Ihnen seither nicht mehr gelungen. Wie nehmen Sie das wahr?

    Jeunet: Wenn ich eine Masterclass für Filmstudenten gebe, frage ich, wer meine Filme gesehen hat. Bei meinen „Delicatessen“ heben vielleicht zehn Leute ihre Hände, bei „Amélie“ alle. Ein befreundeter Regisseur meinte, es sei ein Drama, wenn man so einen Riesenerfolg hat. Aber ich bitte Sie: Dass ich mit einem so persönlichen Film so viele Zuschauer erreichen konnte, ist doch ein Glücksfall. Wer will sich da beschweren! Abgesehen davon ist es normal, wenn man nicht alle Filme eines Regisseurs mag. Ich liebe Martin Scorsese, doch es ist nicht so, dass mir jeder seiner Filme gefällt.

    Allerdings dreht Scorsese ständig. Zwischen Ihrem letzten Film „Die Karte meiner Träume“ und „Bigbug“, der dieses Jahr auf Netflix herauskam, liegen acht Jahre.

    Jeunet: Ich kann es selbst nicht glauben, wenn mich Kritiker darauf hinweisen. Aber das hängt damit zusammen, dass die Marketingleute die Macht ergriffen haben. Das war ein richtiger Putsch. Und diese Werbemenschen erklären dir, was du zu tun hast. Das gilt in allen Bereichen, nicht nur fürs Kino. Jean Paul Gaultier hat mir das Gleiche geklagt. Dabei war ich aber nicht untätig. Nachdem ich das Drehbuch zu „Bigbug“ fertiggestellt hatte, wollte das niemand in Frankreich produzieren. Denn die Geschichte ist eine Komödie mit Robotern, und in den Augen der Leute funktioniert das nicht. Danach schrieb ich ein weiteres Skript zum Thema Sex, und momentan ist keine gute Zeit, über dieses Thema zu sprechen. Also habe ich ein paar Kurzfilme gedreht und eine Ausstellung über meine Arbeit mit Marc Caro organisiert, die ein Riesenerfolg war.

    „Bigbug“ wurde von Netflix ohne große Werbung herausgebracht. Ist Streaming für Sie wirklich die ideale Lösung?

    Jeunet: Manche Leute lieben den Film, manche hassen ihn. Aber die Einschaltquoten sind hervorragend. Es gab Millionen Zuschauer. Und die Menschen sehen ihn sich auch bis zu Ende an. Wäre er im Kino gestartet, dann hätte man ihn nach ein paar Tagen aus dem Vorführsälen genommen. Dass „Amélie“ so viel Erfolg hatte, lag auch daran, dass ihn der französische Verleiher neun Monate in den Kinos ließ. Momentan arbeite ich an einer Miniserie, und die ist wieder für einen Streamer bestimmt. Bei „Bigbug“ habe ich jahrelang mit französischen Partnern verhandelt und total viel Zeit verloren. Netflix dagegen gab sein Okay innerhalb von 24 Stunden, und ich hatte die komplette künstlerische Freiheit.

    Filmregisseur Jean-Pierre Jeunet.
    Filmregisseur Jean-Pierre Jeunet. Foto: Etienne Laurent, dpa

    Mögen Sie das Kino nicht mehr?

    Jeunet: Das wird doch von Blockbustern bestimmt, und die sind wie Videospiele. Ich kann Martin Scorsese in seinem Urteil nur zustimmen. Solche Filme will ich nicht mehr sehen. Ich gehe nicht mehr ins Kino, sondern schaue mir lieber Filme und Serien bei mir zu Hause an. Zum Glück habe ich einen sehr großen Bildschirm. Ich hasse es auch, wenn da Leute im

    Sie sprachen vorhin von den Filmstudenten, mit denen Sie zu tun haben. Geben die Anlass zur Hoffnung?

    Jeunet: Leider nein, denn sie haben keinerlei filmische Bezugspunkte mehr. Ich sprach vor 120 Studenten in Turin, und nur vier davon hatten „La Dolce Vita“ gesehen. Bei einer Veranstaltung mit 80 Studenten in Paris stellte sich heraus, dass keiner „2001“ kannte. Ganz zu schweigen von den klassischen Regisseuren und Autoren des französischen Kinos wie Marcel Carné und Jacques Prévert. Keiner hat mehr eine Ahnung. Andererseits habe ich mir einen Horror-Kurzfilm angesehen, den ein großer französischer Youtube-Star gemacht hat, und er war furchtbar. Und dieser Typ hat 17 Millionen Follower. Das treibt mich in den Wahnsinn. Ich versuche den jungen Leuten zu vermitteln: Wenn ihr Filme machen wollt, braucht ihr eine Basis. Ihr müsst euch die Klassiker anschauen!

    Woher kommt die mangelnde filmische Bildung?

    Jeunet: Die Leute werden einfach mit Informationen aus allen Kanälen überflutet – Youtube, Videospiele, soziale Netzwerke. Für die ist es schrecklich, einen alten Schwarzweiß-Film zu sehen. „Delicatessen“ ist wie ein Relikt aus dem Mittelalter. Eine Werbeagentur erzählte mir, dass sie einen Clip mit Bruce Willis gedreht hätten, den sie nie herausbrachte. Denn die jungen Leute wussten nicht, wer

    So gesehen müssen Sie also die Zukunft des Films sehr pessimistisch sehen.

    Jeunet: Das Hauptproblem ist der Druck der Marketingabteilungen, denn die wollen einfach nur Produkte abliefern, die sie verkaufen können. Es gibt aber immer noch interessante Filmemacher. Paolo Sorrentino zum Beispiel. Regisseure wie er machen mir Hoffnung. Und vielleicht gibt es neue Formen des Films – Virtual Reality zum Beispiel. Film wird als Medium nicht verschwinden, es kommt einfach etwas dazu.

    Und wie sehen Sie Ihre eigene Zukunft als Regisseur?

    Jeunet: Ich will nur noch Dinge zu meinem persönlichen Vergnügen machen. Ich liebe den Besetzungsprozess, die Storyboards, die Suche nach Drehorten – alles. Ich bin also völlig selbstsüchtig. Ich denke nicht mehr ans Publikum. Ein paar Leute wird es schon geben, denen es gefällt. Mit 68 kann ich mir diese Haltung leisten.

    Aber einen Film wie „Amélie“ könnten Sie nicht mehr drehen, wie Sie in einem anderen Interview meinten.

    Jeunet: Ein Produzent hat das zu mir gesagt. Weil der Film zu skurril sei. Jedenfalls mache ich nur Filme, bei denen ich die absolute Freiheit habe. Die will ich nie aufgeben. Und wenn ich nicht nach meinen Vorstellungen arbeiten kann, dann höre ich mit der Filmerei auf. Mit fallen genügend andere Dinge an, die ich tun kann. Ich werde jedenfalls nicht frustriert sein.

    Jean-Pierre Jeunet, geboren 1953, ist einer der bekanntesten französischen Regisseure seiner Generation. Internationale Aufmerksamkeit erzielte er 1981 (zusammen mit Marc Caro) mit „Delicatessen“, bevor er mit „Alien – Die Wiedergeburt“ und „Die fabelhafte Welt der Amélie“ ein weltweites Publikum fand. Anlässlich einer neu restaurierten Fassung ist der Film am 3. Mai einmalig bundesweit in rund 300 Kinos zu sehen.

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