Herr Eichler, was hat Sie bewogen, in Ihrem Buch "Das Echo der Zeit" gerade vier Komponisten, ihr Leben und ihr Werk in den Mittelpunkt zu stellen?
JEREMY EICHLER: Arnold Schönberg, Richard Strauss, Benjamin Britten und Dmitri Schostakowitsch sind vier überragende Komponisten des 20. Jahrhunderts. Während der Kriegsjahre standen diese vier an völlig verschiedenen Fenstern und blickten auf ein und dieselbe Katastrophe. Jeder reagierte auf den Bruch mit einem aufgeladenen Mahnmal an Tönen – was eine Reihe von Werken ergab, die, speziell vor dem Hintergrund ihrer bemerkenswerten Entstehung und Rezeption, mit die wichtigsten moralischen und ästhetischen Stellungnahmen des 20. Jahrhunderts darstellen.
Um welche Werke handelt es sich?
EICHLER: Um Arnold Schönbergs "A Survivor from Warsaw", um die "Metamorphosen" von Richard Strauss, um Benjamin Brittens "War Requiem" und um die "Babi Jar"-Sinfonie von Dmitri Schostakowitsch. Meine Absicht war, die Kriegsvergangenheit und den Holocaust anhand dieser vier besonderen Musikwerke, anhand des Lebens ihrer Komponisten und anhand einzelner Momente in der Sozial- und Kulturgeschichte zu erforschen und darzustellen.
Wollen Sie damit einen Beitrag zu dem leisten, was Sie "deep listening" nennen und was verstehen Sie darunter?
EICHLER: Das vertiefte oder vertiefende Hören ermöglicht ein anderes, ein genaueres Hören und Empfinden der Musik. Das Echo, das aus dieser Tiefe erschallt, hat verschiedene Zeitebenen: Schon die Umstände der Entstehung eines Werkes und die historischen Vorbedingungen ihrer Entstehung klingen – hört man genau hin – in jedem Werk nach. Diese Ebene liegt bei diesen Werken mehr als ein halbes Jahrhundert zurück. Heute wissen wir vieles mehr über den Krieg und die Schoah. Inzwischen haben die Werke selbst eine Aufführungsgeschichte hinter sich. Auch diese Folgen bilden ein Echo, das uns beim Hören dieser Kompositionen erreichen und – je nach der individuellen Veranlagung und Lebenslage – bewegen kann. Ich bin der Auffassung, dass ein solches Echo von Kompositionen durch die spezifische Wirkung der Musik ein unverzichtbares Monument der historischen Vergewisserung sein kann. Solche Monumente sind unzerstörbar und durch die multiplen Echoebenen auch zeitlos. Durch sie wird die Vergangenheit zu Bestandteilen der Gegenwart und weisen auch in die Zukunft.
Muss sich die Aufforderung zum "deep listening" nicht auch an die Aufführenden richten?
EICHLER: Selbstverständlich! Jeder Dirigent, jeder Musiker, der das "Echo der Zeit" mithört, das nicht Gestalt in den Noten angenommen hat, aber auch nach Jahrzehnten noch mitgelesen und folglich auch mitgehört werden kann, wird z. B. das "Schm'a Jisrael" in Schönbergs "Survivor" mit einem vertieften Verständnis singen und spielen. Und wenn wir uns dazu noch die Umstände der denkwürdigen Uraufführung in Albuquerque vergegenwärtigen, dann wird das Empfinden noch einmal anders intensiviert.
Ist Ihr Buch nicht als so etwas wie ein großes Programmheft zu lesen?
EICHLER: Jedes Programmheft berücksichtigt Ort und Zeit einer Aufführung, die Mitwirkenden, das erwartete Publikum. Mein Buch kann dabei hilfreich sein. Es ist aber in erster Linie eine ganz generelle Einladung zu "deep listening", also zum Mithören dessen, was nicht in der Partitur steht, des Echos der verschiedenen vergangenen Zeitebenen eben.
Sie beziehen sich in Ihrem Buch immer wieder auf die deutsche Kultur, nicht nur in der Musik – gibt es eine besondere Beziehung zu ihr?
EICHLER: Meine jüdischen Vorfahren sind vor 1933 in die USA eingewandert. Ich bin ein sogenannter "witness by adaption" (deutsch: Zeuge durch Anpassung, Anm. d. Red.). Aber nehmen wir Arnold Schönberg! Er sah sich in der Tradition der deutschen Musik seit Johann Sebastian Bach oder Beethoven. Er wollte mir seiner Zwölftonmusik sogar die Zukunft dieser deutschen Musiktradition einleiten und definieren. Und wenn ich Walter Benjamin, Stefan Zweig oder Adorno zitiere – sie alle standen in dieser deutschen Kulturtradition. Ich denke, dass die Musik das wesentliche Bindeglied im Bewusstsein der Deutschen im 18. und 19. Jahrhundert im Zeichen der Kleinstaatlichkeit vor der Reichsgründung war, das überhaupt zu so etwas wie einer Tradition taugte. Das von den Nazis so brutal aufgekündigte deutsch-jüdische Zusammenleben war eine kulturelle Symbiose, die sich besonders in der Musik ausdrückte.
Zur Person
Jeremy Eichler ist Chefkritiker für klassische Musik beim Boston Globe. Davor war der 1974 geborene Eichler Kritiker bei der New York Times. Sein jetzt auf Deutsch vorliegendes Buch "Das Echo der Zeit" ist im Verlag Klett-Cotta erschienen (464 S., 32 €).