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Interview: Marius Müller-Westernhagen: „Freiheit ist eine Illusion“

Interview

Marius Müller-Westernhagen: „Freiheit ist eine Illusion“

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    Marius Müller-Westernhagen hat während des Lockdowns in Kapstadt neue Songs geschrieben.
    Marius Müller-Westernhagen hat während des Lockdowns in Kapstadt neue Songs geschrieben. Foto: Olaf Heine, Sony Music

    Herr Müller-Westernhagen, Sie sind im friedlichen Nachkriegsdeutschland aufgewachsen. Haben Sie Angst vor einem dritten Weltkrieg?

    Marius Müller-Westernhagen: Ich glaube nicht, dass der Russe bald bei uns auf der Matte steht. Viele Deutsche reagieren jetzt auch deshalb so stark, weil die Ukraine so nah ist. Ich finde es ganz schrecklich, was dort passiert, es berührt mich sehr. Und natürlich verachte ich Putin, verachte ich seinen Angriffskrieg. Ich finde aber auch die Kriege im Jemen oder in Syrien fürchterlich. Nur sind diese Länder für uns Deutsche weit weg. Das schauen wir uns im Fernsehen mit einem gewissen Abstand an und haben Mitleid. Bei der Ukraine haben wir das Gefühl, wir sind mittendrin.

    Haben Sie trotzdem eine Theorie, warum die Welt immer konfuser und bedrohlicher wirkt?

    Müller-Westernhagen: Die Mitmenschlichkeit geht uns mehr und mehr verloren. Wir dreschen lieber aufeinander ein, anstatt gemeinsam nach Lösungen zu suchen. Die sozialen Medien, von denen ich mich fernhalte, sind ein echter Brandbeschleuniger. Jeder Trottel kann dort jeden manipulativen Unsinn verbreiten, und was einmal im Internet steht, das bleibt auch dort. Die Leute haben außerdem eine immer kürzere Lunte. Die Fähigkeit und der Wille zur Vergebung gehen uns abhanden. Auf jede Kleinigkeit wird heutzutage heftig und nicht selten überzogen reagiert. Die Gelassenheit, die so wichtig ist, wenn man vernünftig nebeneinander existieren will, ist auf dem Rückmarsch. So kann man auf Dauer als Gesellschaft nicht funktionieren.

    Aber die Politik ist doch nicht an allem schuld, oder?

    Müller-Westernhagen: Nein, natürlich nicht. Aber sie hechelt ständig hinterher. Wann hat denn die Politik das letzte Mal etwas gestaltet? Es wird immer nur reagiert, sei es bei dem Flüchtlingsstrom von 2015, sei es bei der Pandemie, sei es jetzt beim Krieg Russlands in der Ukraine. Und immer wieder macht die Politik den Eindruck, überrumpelt worden zu sein.

    War es auch der geballte Irrsinn in der Welt, der Sie motiviert hat, zum ersten Mal seit „Alphatier“ 2014 wieder ein Album mit neuen Liedern aufzunehmen?

    Müller-Westernhagen: Als ich anfing, diese Lieder zu schreiben, saß ich in Kapstadt fest und kam intensiv ins Nachdenken. Ich reflektierte die Situation und die Zeit, in der wir uns befinden, ich reflektierte im Grunde auch mein ganzes Leben. Diese Gedanken führten dazu, dass ich gar nicht mehr anders konnte, als Stellung zu beziehen.

    Das Album klingt sehr energisch.

    Müller-Westernhagen: Absolut. Das ist der Frust, der rausmusste. Die Platte ist sehr wuchtig geworden und sehr laut. Ich bin unglaublich glücklich mit der Kraft dieser Songs. Ich habe immer den Ehrgeiz, am Ende sagen zu können, diese Platte ist wieder ein Schritt nach vorne. Meine Arbeit ist getan, wenn ich mich selbst in den Liedern wiedererkenne, wenn ich sagen kann, das bin ich.

    Die Ballade „Die Wahrheit“ zum Beispiel, die so ein bisschen an „Stairway To Heaven“ erinnert, ist sehr üppig produziert. Andere Stücke, wie „Wenn wir über den Berg sind“, klingen eher karg.

    Müller-Westernhagen: Auf „Die Wahrheit“ bin ich besonders stolz. Das wäre vor zwanzig Jahren eine Single gewesen. Ich hatte beim Schreiben sehr viel Zeit und beschäftigte mich mit Fragen wie „Wer bist du?“, „Was willst du?“, „Was macht dich glücklich und was macht dich unglücklich?“ Eine der Erkenntnisse daraus ist die, dass ich für mein Handeln und meine Situation selbst verantwortlich bin. Bei „Wenn wir über den Berg sind“ sollte das Klavier mit einer gewissen Naivität gespielt werden, ehrlich und minimalistisch. Ich hatte dabei John Lennon im Kopf oder Randy Newman mit seinem fast schon Pub-artigen Pianostil.

    „Auf die Barrikaden, das kann keinem schaden“, singen Sie in „Zeitgeist“. Brauchen wir die Revolution?

    Müller-Westernhagen: Wir brauchen ein neues gesellschaftliches Bewusstsein. Wir müssen uns stärker dafür interessieren, wo es drastische Ungerechtigkeiten gibt. Nicht in dem Sinne, dass wir nach dem Kommunismus rufen, aber auch in Demokratien muss die Politik dafür Sorge tragen, dass die Gesellschaft ein moralisches Fundament hat. Entscheidungen sollten nicht Einzelnen zugutekommen, sondern allen. Wenn jeder Bundestagsabgeordnete mit Lobbyisten dealt, kommen wir genauso ins Schleudern wie bei der Parteienfinanzierung durch irgendwelche Multimillionäre. Denn da geht sie los, die Manipulation.

    Was muss getan werden?

    Müller-Westernhagen: Wir verlangen sehr viel von unseren Politikerinnen und Politikern. Und sie werden beschissen bezahlt für die Aufgaben, die sie zu erledigen haben. Gerhard Schröder wollte damals einen Spitzenmanager von Mercedes in die Politik holen, Helmut Werner. Aber der hat ihm abgesagt, weil er in seinem Unternehmen zehnmal so viel verdienen konnte.

    Das tut Putin-Freund und Ex-Kanzler Schröder jetzt vermutlich auch.

    Müller-Westernhagen: Zu meinem Entsetzen, ja. Gerhard hat als Kanzler eine Menge erreicht. Ich habe großen Respekt vor seiner Leistung, und natürlich macht in dieser Position jeder Mensch auch Fehler. Aber ich kann sein heutiges Handeln nicht nachvollziehen.

    Sie waren befreundet. Haben Sie Schröder mal ins Gewissen zu reden versucht?

    Müller-Westernhagen: Nein. Wir haben schon lange keinen Kontakt mehr. Er lässt niemanden mehr an sich ran.

    Das Konterfei Gerhard Schröders taucht auch im Video zum Song „Zeitgeist“ auf. Neben vielen anderen Prominenten ist dort auch Heidi Klum zu sehen, ausgerechnet in dem Moment, in dem Sie das Wort „Botoxfresse“ singen. Ist das eine Generalabrechnung?

    Müller-Westernhagen: Der Song ist eine Kritik am System, nicht an einzelnen Individuen. Ich wundere mich darüber, wie viele Menschen sich bereitwillig zum Clown machen, um erfolgreich zu sein, oder um überhaupt stattzufinden in der öffentlichen Wahrnehmung. Der eine tritt in komischen Quizshows auf, der nächste zieht komische Hüte an. Warum? Wenn du deine Seele und dein Innerstes zu Markte trägst, verlierst du dich am Ende nur selbst.

    Um Lügen ging es oft in der Corona-Debatte. Haben Sie auch deshalb mit einem Plakat für die Corona-Impfung geworben, weil Impfgegner Ihren Song „Freiheit“ für ihre Zwecke besudelten?

    Müller-Westernhagen: Ich konnte und wollte das nicht unwidersprochen so stehen lassen. Also habe ich Fakten geschaffen und den Querdenkern das Stück wieder entrissen.

    „Freiheit“ ist Ihr berühmtester Song. Liegt er Ihnen besonders am Herzen?

    Müller-Westernhagen: Ich halte „Freiheit“ längst nicht für den besten Song, den ich je geschrieben habe. Aber vielen Menschen bedeutet er eine Menge. Ich setze das Lied nur wohldosiert ein, zuletzt beim Solidaritätskonzert für die Ukraine vor dem Brandenburger Tor.

    Ist Freiheit das Einzige, was zählt?

    Müller-Westernhagen: Freiheit ist eine Illusion. Genau wie Sicherheit eine Illusion ist. Wahrscheinlich ist man nur frei, wenn man nichts mehr will, wenn man keine Wünsche und Ansprüche mehr hat. Sondern einfach nur zufrieden ist.

    Haben Sie diesen Zustand erreicht?

    Müller-Westernhagen: Na ja, in guten Momenten schon. Ich weiß, ich muss gar nichts – außer sterben und Steuern zahlen (lacht). Diese Erkenntnis ist wirklich befreiend.

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