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Interview: Literaturkritikerin Elke Heidenreich: „Ich bin immer missionarisch“

Interview

Literaturkritikerin Elke Heidenreich: „Ich bin immer missionarisch“

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    "Bücher haben viel zu wenig Chancen, als dass ich sie auch noch vernichten möchte", sagt die Literaturkritikerin Elke Heidenreich
    "Bücher haben viel zu wenig Chancen, als dass ich sie auch noch vernichten möchte", sagt die Literaturkritikerin Elke Heidenreich Foto: Henning Kaiser

    Wie Sie in Ihrem neuen Buch „Hier geht’s lang! Mit Büchern von Frauen durchs Leben“ eindrucksvoll schildern, fanden sich Autorinnen in der Vergangenheit in der Minderheit, aber der Buchmarkt zeigt inzwischen ein anderes Bild ...

    Elke Heidenreich: Ja, Autorinnen sind sehr auf dem Vormarsch. Die Dichterin Amanda Gorman, die bei der Amtseinführung Bidens aufgetreten ist, ist das weltweit größte deutliche Zeichen dafür. In den letzten Jahren sind so viele, sehr gute Bücher von Frauen erschienen, die auch beachtet werden. Das ist keine Randerscheinung nach dem Motto: ‚Ach sie schreibt auch’. Ich erinnere an Chimamanda Ngozi Adichie, die geschrieben hat, wie schwarze Frauen in Amerika zurechtkommen, oder Hanya Yanagiharas „Ein bisschen Leben“ - ein wunderbares Buch über Männer von einer Frau. Letztlich gibt es gute und schlechte Literatur. Und bei der guten sind die Frauen stark vertreten.

    Mittlerweile beginnt das Thema ‚Gleichberechtigung’ auch die Sprache zu verändern. Wird sich das fortsetzen?

    Heidenreich: Ich glaube, dass sich diese Genderei wieder beruhigt. Ich halte auch nichts davon, dass man nachträglich alte Bücher auf das heutige angepasste Reden und Denken frisiert. Das ist Schwachsinn, und das wird hoffentlich wieder aufhören.

    Sie schildern in Ihrem Buch freilich auch, wie Sie in jungen Jahren mit den konservativen Frauenbildern der damaligen Mädchenbücher konfrontiert waren. Wie haben Sie diese Eindrücke wieder abgeschüttelt?

    Heidenreich: Ich habe nach einiger Zeit gemerkt, dass es immer wieder um dasselbe geht: Das Mädchen muss brav sein, einen Mann heiraten und eine liebe Mutti werden. Und mir war beim Aufwachsen in den schwierigen Nachkriegsjahren klar, dass es nicht immer so weitergehen kann. Dann las ich auch Bücher, die andere Frauenbilder zeigten, etwa „Vom Winde verweht“, wo ich eine sehr resolute Scarlett O’Hara kennenlernte. Im Studium las ich dann immer nur Bücher von Männern, und ich dachte mir, es gibt doch auch Frauen, die schreiben, nicht nur Annette von Droste-Hülshoff. Und die habe ich mir zusammengesucht. Auf der Folie der Bücher habe ich irgendwann begriffen, dass die Welt, wie sie sich in den Mädchenbüchern darstellte, so nicht ist.

    Elke Heidenreich: "Die Leute daddeln, aber sie lesen auch."

    Seither haben sich die Bedingungen für Literatur massiv verändert. Glauben Sie, dass im digitalen Zeitalter, wo die Menschen multimedial bombardiert werden, das Lesen noch so einen Stellenwert haben wird?

    Heidenreich: Ich mache mir da keine Sorgen. Die Allianz Lampe-Mensch-Buch wird immer bestehen bleiben. Ich sehe es beispielsweise, wenn ich Zug fahre. Die Leute daddeln viel auf ihrem Handy, aber sie lesen auch. Der Bedarf nach Geschichten wird immer da sein, selbst wenn die Auflagen kleiner werden und wir nicht mehr die rasanten Bestseller wie früher haben werden. Was mir eher Sorgen macht, ist, dass die Kultur im öffentlichen Raum eine immer geringere Rolle spielt und nicht ernst genommen wird. Dabei ist sie das Wichtigste, das wir besitzen. Fußballspiele finden normal statt, während etwa Opern- und Konzertaufführungen immer noch begrenzt werden. Aber der einzelne Mensch mit seiner Lust nach Geschichten kann nicht immer nur Netflix-Serien gucken, der wird weiterhin lesen.

    Wenn es um Leseerfahrungen geht, greifen Sie gerne zum Ausrufezeichen. Das gehörte schon zum Titel ihres TV-Magazins „Lesen!“ und findet sich auch in „Hier geht’s lang!“

    Heidenreich: Ich bin ja immer missionarisch. Ich habe das Bestreben, den Leuten zu sagen: ‚Ein Buch heilt kein Corona, es verhindert keine Pleite, aber das Lesen lenkt uns drei Stunden mit einer guten Geschichte ab. Es gibt uns Kraft, und danach kann man wieder weitermachen.’

    Sie haben dieses Jahr Ihren 78. Geburtstag gefeiert. Machen Sie sich Gedanken über die Bücher, die Sie noch lesen müssten oder möchten?

    Heidenreich: Ich habe ganz große Lücken, insbesondere, was das 19. Jahrhundert angeht. Vieles habe ich auch nie ganz geschafft, zum Beispiel „Der Mann ohne Eigenschaften“. Aber ich mache mir keine Listen. Ich bin ja noch total aktiv in meinem Beruf. Ich habe verschiedene Zeitungskolumnen, bespreche regelmäßig Bücher. Daher gucke ich vor allem erst mal auf Neuerscheinungen. Aber manchmal, wenn ich leere Tage oder lange Zugfahrten habe und nichts mich drückt, dann hole ich mir eines von den alten Büchern. Gerade habe ich die Erzählungen von F. Scott Fitzgerald noch einmal gelesen.

    "Männer sind an Büchern von Frauen weniger interessiert als Frauen an Büchern von Männern."

    Als Literaturvermittlerin scheinen Sie ja aufgeschlossener als so manche Ihrer männlichen Kollegen. In Ihrem Buch findet sich die folgende Passage: „Lesen Männer gern Virginia Woolfs ‚Orlando’? Jeanette Wintersons ‚Orangen sind auch eine Frucht’? Wohl eher nicht.“

    Heidenreich: ich glaube, dass Männer an Büchern von Frauen weniger interessiert sind als Frauen an Büchern von Männern. Denn viele Männer interessieren sich nicht dafür, was Frauen fühlen und denken.

    Allen Ernstes?

    Heidenreich: Verallgemeinerungen sind immer falsch. Aber manchmal muss man eben verallgemeinern, damit die Diskussion losgeht. Ich habe diesen provozierenden Satz von Ruth Klüger übernommen.

    Wird sich diese Einstellung der männlichen Leser ändern?

    Heidenreich: Ja. Ich glaube, dass zum Beispiel alle Männer, die ihr Kind mit dem Fahrrad in die Schule bringen, am Leben von Frauen und an den Büchern von Frauen mehr interessiert sind als früher. Denn sie merken, dass ihr eigenes Wohlbefinden davon abhängt, ob man partnerschaftlich miteinander umgeht. Dass es also nicht schaden kann, zu wissen, was Frauen denken. Aber das Gros der Männer, wie ich es etwa im Business oder in der Politik erlebe, ist nach wie vor mehr mit dem eigenen männlichen Kram beschäftigt.

    Es gibt ja auch Trash-Literatur von Autorinnen wie „50 Shades of Grey“. Was halten Sie eigentlich davon?

    Heidenreich: Die hat es immer gegeben. Das ist leicht verdaulicher schneller Kram für Männer und Frauen. Das ist okay, aber das ist nicht Literatur.

    Doch das sind Bücher, die immerhin dem Massengeschmack entsprechen. Wenden Sie sich an die kulturelle Elite?

    Heidenreich: Nein. Ich will auch einfache Menschen erreichen, die wenig lesen. Die haben keine Angst vor mir, weil meine Sprache einfach ist, und ich erreiche auch die Klugen, weil ich nicht doof schreibe, sondern weiß, was ich tue. Ich bleibe immer bei mir selbst und vertraue darauf, dass ich viele Menschen anspreche.

    Das Buch bietet auch viele bislang unbekannte Blicke in Ihren Werdegang...

    Heidenreich: Ja, es ist eindeutig autobiografisch. Gegen Ende meines Lebens kann ich mir das leisten und darüber Auskunft geben.

    Gibt es denn ein ganz bestimmtes literarisches Werk, das Ihre Biografie maßgeblich geprägt hat?

    Heidenreich: In meinen verschiedenen Lebensaltern gab es unterschiedliche Bücher, die zu der jeweiligen Zeit wichtig waren und nachher nicht mehr, aber die mich auf den Weg gebracht haben. Wenn ich ein einziges herausgreifen müsste, dann wäre es ein großer Gedichtband - mit Lyrik quer durch alle Jahrhunderte und alle Länder. Gedichte sind mir nach wie vor das Allerwichtigste und haben mir am allermeisten erklärt. Poesie ist ein rettendes Geländer im Leben.

    Aber wird die leise Lyrik im Mediengewitter weiter gehört werden?

    Heidenreich: Ich hoffe das. Bei meinen Lesungen frage ich das Publikum immer ‚Weiß jemand von Ihnen ein Gedicht?’ Da melden sich viele. Und wenn ich dann auch ein Gedicht aufsage, ist es mucksmäuschenstill und die Leute sind ganz ergriffen. Ich habe bei Fernsehsendern immer wieder vorgeschlagen, man solle vor oder nach den Nachrichten drei Minuten für ein Gedicht opfern. Immer gibt es Platz für den Sport, warum nicht für die Kultur? Ich denke, wir würden viele Menschen erreichen, und die Welt sähe etwas besser aus. Der Bedarf an Poesie ist da. Die komprimierte Schönheit, wie sie nur ein Gedicht oder ein Musikstück bieten kann, brauchen wir für unsere Seelen, die sonst überfordert sind.

    Und worin besteht Ihre Verantwortung als Literaturvermittlerin?

    Heidenreich: Ich möchte zunächst sagen: Lesen ist nicht nur eine Sache von Bildung. Man sollte sich jeden Tag die Zeit nehmen, in gute Sprache einzutauchen. Denn Literatur hilft, dass wir nicht so verhudelt sprechen, sondern dass wir lernen, anständig zu formulieren. In der Sprache begegnen wir anderen Menschen. Wenn Sprache nicht klar ist, sind Verhältnisse nicht klar. Lesen hilft auch, unterhalten zu werden, komplexe Dinge zu verstehen. Es hat so viele Facetten. Man kann lachen, man kann weinen, man wird aufgewühlt, man denkt über andere Themen nach. Meine Lebensaufgabe besteht also darin, das Glück des Lesens zu vermitteln. Ich möchte auch keine Bücher verreißen. Bücher haben viel zu wenig Chancen, als dass ich sie auch noch vernichten möchte, wie es etwa Denis Scheck tut. Ich halte das für sinnlos.

    Elke Heidenreich: Hier gehts lang! Mit Büchern von Frauen durchs Leben. Eisele Verlag, 192 Seiten, 26 Euro

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