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Interview: Julia Fritzsche: „Im Oben-ohne-Verbot drückt sich eine Hierarchie aus“

Interview

Julia Fritzsche: „Im Oben-ohne-Verbot drückt sich eine Hierarchie aus“

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    Im Gegensatz zu Männern dürfen Frauen nicht selbst über ihren Körper bestimmen, sagt die Autorin Julia Fritzsche. Sie fordert beim Thema "Oben ohne" eine Gleichbehandlung der Geschlechter.
    Im Gegensatz zu Männern dürfen Frauen nicht selbst über ihren Körper bestimmen, sagt die Autorin Julia Fritzsche. Sie fordert beim Thema "Oben ohne" eine Gleichbehandlung der Geschlechter. Foto: Christophe Gateau, dpa

    Warum finden Sie es wichtig, sich mit dem Thema „Oben ohne“ zu beschäftigen? Oder anders gefragt: Gibt es nicht drängendere Probleme?
    JULIA FRITZSCHE: Natürlich haben wir mit Kriegen, Klimakrise und so vielen Menschen wie nie zuvor auf der Flucht akut bedrohlichere Missstände auf dieser Welt. Wir haben sogar in Geschlechterfragen mit Armut von alten Frauen und Alleinerziehenden, mit Femiziden, mit Kriminalisierung von Abtreibungen bedrohlichere Missstände als eine Bikinioberteilpflicht. Trotzdem denke ich, dass das Oben-ohne-Privileg für Männer, die einfach überall ihr Shirt ausziehen dürfen, eine Hierarchie darstellt. Sie dürfen selbst über ihren Körper bestimmen, Frauen nicht. Darin kommt eine gesellschaftliche Unterordnung der Frau zum Ausdruck und ein Ausschluss von queeren Menschen. Ich glaube, gerade angesichts der Bedrohung durch rechte Bewegungen und Erzählungen, denen die Geschlechterhierarchie immanent ist, ist es wichtiger denn je, sich für eine Freiheit aller Geschlechter einzusetzen.

    Woher kommt eigentlich die Sexualisierung der weiblichen Brust?
    FRITZSCHE: Wenn wir weit zurückgucken, sehen wir, dass weltweit gesehen Nacktheit vor allem im warmen Klima normal war. Dass der weibliche Körper so tabuisiert wurde, liegt vor allem an der Ausbreitung der großen monotheistischen Weltreligionen. Darin gilt der weibliche Körper als sündhaft. Hinzu kommt nach der Zivilisationstheorie, dass wir durch das immer engere Zusammenleben im Zuge der Urbanisierung angefangen haben, uns für Körperliches zu schämen, zum Beispiel Nacktheit. Wann und wo man angefangen hat, Brüste zu bedecken, ist aber nicht ganz klar. Kleiderregeln waren oft kommunal und vielfältig. Ein wichtiges Gesetz war 1932 dann im deutschen Raum der sogenannte Zwickel-Erlass. Laut diesem durften Männer oben ohne baden, wenn keine Kinder da sind, und Frauen nicht. Das war nicht zufällig ein Jahr vor Hitlers Machtergreifung, diese Geschlechtertrennung kam in einem faschistischen Zeitgeist auf.

    Die Journalistin und Autorin Julia Fritzsche wünscht sich eine Gleichheit aller Geschlechter – auch bei der Bekleidung.
    Die Journalistin und Autorin Julia Fritzsche wünscht sich eine Gleichheit aller Geschlechter – auch bei der Bekleidung. Foto: Julia Schärdel

    Wie wird das Oben-Ohne-Verbot heute durchgesetzt?
    FRITZSCHE: Es ist nirgends explizit festgeschrieben, wie Nippel verhüllt werden müssen. Es gibt in Deutschland sogenannte „Gummiparagrafen“ im Ordnungswidrigkeitengesetz und im Strafgesetzbuch. Die können so ausgelegt werden, dass ein Verhalten als Belästigung der Allgemeinheit oder als Erregung öffentlichen Ärgernisses gilt. Frauen bekommen selten deswegen eine Strafzahlung, aber sie werden immer wieder von Sicherheitsdiensten gemaßregelt oder bekommen einen Platzverweis, wenn sie oben ohne sind. In Schwimmbädern ist im Nassbereich oft eine „angemessene Badekleidung“ vorgeschrieben und das Badepersonal kann entscheiden, was angemessen ist.

    Auch gesellschaftlich wird das Verbot durchgesetzt. Frauen riskieren Übergriffe oder Beschämung, wenn sie oben ohne herumlaufen. Wie können sie davor geschützt werden?
    FRITZSCHE: Wir brauchen grundsätzlich mehr Arbeit im Bereich Gewalt gegen Frauen, vor allem Täter- und Aufklärungsarbeit. Dass Frauen nicht über ihren eigenen Körper bestimmen können, was sich im Oben-ohne-Verbot ausdrückt, spielt bei Gewalt gegen Frauen eine wichtige Rolle. Mein Wunsch wäre, dass wir Brüste von Frauen so behandeln wie Brüste von Männern. Das heißt im Idealfall: sie ignorieren, nicht gaffen, in keinem Fall als Einladung verstehen. Und wenn jemand trotzdem – weil wir uns noch nicht daran gewöhnt haben, die weibliche Brust als banal zu begreifen – etwas Sexuelles dabei empfindet, muss die Person das für sich behalten.

    Welche Auswirkungen hat das Oben-ohne-Verbot für queere Menschen?
    FRITZSCHE: Queere Menschen sind aus dieser zweigeteilten Regelung komplett ausgeschlossen und müssen sich fügen. Die Ordnung „Männer-Nippel sind ok, Frauen-Nippel nicht“ lässt sich überhaupt nicht anwenden auf Menschen, die sich nicht als Mann oder als Frau verstehen. Das zeigt sich auch in den sozialen Medien, weshalb unter anderem der Konzern Meta seine Regelung überarbeiten soll. Dort sind weiblich gelesene Nippel verboten und die Bilder werden gelöscht. Der Aufsichtsrat sagt, die Regelung schließt queere Menschen aus und verstößt gegen Menschenrechtsstandards.

    Wie wirkt sich das Verbot weiblicher Nippel in sozialen Medien aus?
    FRITZSCHE: In sozialen Medien sind die Regelungen im Vergleich zu unserer physischen Welt am striktesten. Das ist problematisch, weil sie vor allem bei jungen Menschen Bilder und Wertevorstellungen prägen: Die einen, die Männer, dürfen selbst über ihren Körper bestimmen und ihre Brust ist banal, und die anderen, die Frauen, dürfen das nicht und ihre Körper sind angeblich sexuell aufgeladen.

    Ist das Verbot nicht auch ein Schutz vor Belästigung?
    FRITZSCHE: Das zu erlauben heißt nicht, dass eine Frau sich oben ohne zeigen muss, aber es müsste ihr freigestellt sein, genauso wie in unserem physischen Alltag. Es ist eben nur eine Konvention, dass wir die einen Nippel als sexuell wahrnehmen und die anderen Nippel nicht. Und ich denke, wir können uns im Laufe der Zeit daran gewöhnen, auch weiblich gelesene Nippel als banal zu verstehen. Letzten Endes müssen wir als Gesellschaft darin übereinkommen, an welchen Orten wir nackte Oberkörper wollen und an welchen Orten nicht. Wichtig ist mir, dass für alle die gleichen Regeln gelten.

    Zur Person

    Julia Fritzsche, geboren 1983 in München, studierte Rechtswissenschaften. Heute arbeitet sie als Journalistin für den Bayerischen Rundfunk, die ARD und arte. Ihre Radiofeatures wurden mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet. 2019 erschien ihr Buch „Tiefrot und radikal bunt. Für eine neue linke Erzählung“. Ihr Buch „Oben ohne“ erscheint in der Edition Nautilus (216 S., 18 €).

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