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Foto: Peter von Felbert
Foto: Peter von Felbert

„Der Erfolg macht mich sicherer und mutiger“, sagt Juli Zeh. Ihr aktueller Roman „Über Menschen“ war der meistverkaufte im ersten Halbjahr in Deutschland.

Interview
06.09.2021

Juli Zeh: „Wir-Gefühl? Ein demokratiefeindlicher Slogan“

Von Wolfgang Schütz

Exklusiv Star-Autorin Juli Zeh erklärt, warum sie „gerade mit allen Parteien ziemlich unglücklich“ ist. Sie spricht aber auch über einen wahr gewordenen Lebenstraum.

Frau Zeh, 20 Jahre ist es her, dass Ihr Debütroman „Adler und Engel“ erschien und gleich ein großer Erfolg wurde. Sie wurden zu etwas gezählt, was – aus heutiger Sicht kaum noch vorstellbar – als „Fräuleinwunder der deutschen Literatur“ bezeichnet wurde. Wie erinnern Sie sich an diese Zeit?

Juli Zeh: Es war eine ziemlich wilde Zeit. Der Erfolg kam komplett überraschend für mich. Ich war gerade auf einer Reise durch Bosnien-Herzegowina und telefonisch die meiste Zeit gar nicht zu erreichen. Als ich zurückkam, war schon eine Presse- und Veranstaltungsreise geplant, mit mehreren Terminen wöchentlich in vielen Städten Deutschlands, in Österreich und der Schweiz. Gleichzeitig musste ich aber mein juristisches Referendariat machen und mich aufs zweite Staatsexamen vorbereiten. Ich weiß aus heutiger Sicht überhaupt nicht mehr, wie ich das alles geschafft und durchgehalten habe. Na ja, ich war halt noch sehr jung.

Inzwischen sind sie eine der bedeutendsten und meistgelesenen Autorinnen und Autoren Deutschlands. Ist ein Lebenstraum in Erfüllung gegangen?

Zeh: Oh ja, definitiv. Ein Traum, den ich gar nicht zu träumen gewagt hätte. Ich habe nie erwartet, einmal vom Schreiben leben zu können. Deshalb habe ich meine juristische Ausbildung bis zum Ende gemacht und war immer darauf eingestellt, juristisch zu arbeiten. Dass es nun so gekommen ist, gibt mir unheimlich viel Freiheit und ist ein großes Geschenk.

Durchwachsene Kritik: "Ich finde es ein bisschen traurig"

Mit dem Riesenerfolg von „Unterleuten“ hat das noch einmal eine neue Dimension erreicht. Auch ihr aktueller Roman „Über Menschen“ stößt in ähnliche Sphären vor, mit da schon über 350.000 Exemplaren das meistverkaufte Buch im ersten Halbjahr in Deutschland. Verändert so etwas eigentlich das Schreiben? Wenn man weiß, dass offenbar eine bestimmte Art Ihrer Romane besonders viele Menschen interessiert? Und weil das ja eine Chance bedeutet, ein so breites Publikum quasi aufklärerisch zu erreichen?

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Zeh: Ich schreibe immer wieder das Buch, das ich gerade selbst am liebsten lesen würde. Dass es anderen Leuten dann auch gefällt, ist nicht nur „Erfolg“ im wirtschaftlichen Sinn, sondern es ist für mich auch wie eine große Umarmung, die meine Leserschaft mir schenkt. Gerade weil die Bücher alle so persönlich sind. Insofern macht mich der Erfolg sicherer und mutiger. Ich vertraue darauf, dass ich mit meinen Gedanken und Gefühlen nicht allein bin.

Im Gegensatz zum Publikum war die Aufnahme des Buchs bei Kritikerinnen und Kritikern eher durchwachsen. Interessiert Sie das?

Zeh: Ich finde es ein bisschen traurig. Manchmal habe ich den Eindruck, dass man von der Kritik schlechter behandelt wird, wenn man erfolgreicher ist. Als ob manche immer noch an den alten Irrtum glauben: Wenn es viele mögen, muss es Mist sein.

Über die Bücher hinaus melden Sie sich immer wieder in gesellschaftlichen Debatten engagiert zu Wort, sind als studierte Juristin und auch Philosophin ehrenamtliche Richterin am Verfassungsgericht in Brandenburg, das zum Beispiel einstimmig gegen ein Paritätsgesetz für die Besetzung der Wahllisten entschieden hat. Ist das Bild der in Werk und Tat engagierten Intellektuellen ein Ideal für Sie?

Zeh: Es ist eher so, dass ich bestimmte gesellschaftliche Fragen enorm spannend oder einfach wichtig finde, und deshalb ständig darüber nachdenke. Und alles, was mich länger beschäftigt, schlägt sich dann irgendwann auch in meinen Texten nieder. Mein Engagement als Verfassungsrichterin ist ein bisschen anders gelagert. Zum einen macht mir die juristische Arbeit einfach Spaß. Zum anderen habe ich den Eindruck, damit unserem Land, dem ich sehr viel verdanke, etwas zurückgeben zu können.

Juli Zeh: "Corona setzt auf allen Seiten irrationale Reflexe frei"

Sehr früh und wiederholt haben Sie sich ja auch in der Corona-Krise zu Wort gemeldet. Mahnend, dass wir unsere Freiheitsrechte viel zu leichtfertig und unterhinterfragt über Bord geworfen hätten. Wie ist Ihr aktueller Blick auf die Lage, da ja nun vom Anheben einer vierten Welle die Rede ist?

Zeh: Leider setzt Corona auf allen Seiten irrationale Reflexe frei. Das kann man nach wie vor beobachten. Ich wäre glücklich, wenn wir uns den verbleibenden Herausforderungen pragmatischer und sachlicher nähern könnten. Je sachlicher man denkt und handelt, desto besser gelingt auch der verfassungsrechtlich vorgesehene Ausgleich zwischen Freiheitsrechten und Schutzpflichten.

Die Pandemie spielt ja auch in „Über Menschen“ eine wesentliche Rolle. Die Krise und der sehr unterschiedliche Umgang damit in den beiden Schauplätzen des Romans markiert deutlich völlig unterschiedliche Lebenswelten: in der Großstadt die hysterisch gezeichnete, politisch lautstarke Sorge um die Welt – auf dem Land Verdruss, weil der Alltag ja ganz andere, praktische Probleme kennt, die von der Politik gar nicht wahrgenommen werden. Eine Diagnose über die tatsächliche Spaltung der Gesellschaft?

Zeh: Ich mag den Begriff „Spaltung“ nicht besonders. Er impliziert ja gleich wieder Apokalypse und Gefahr. Man kann auch erst einmal feststellen: Es sind sehr andere Lebensräume mit sehr unterschiedlichen Wertvorstellungen. Das ist nicht nur in Deutschland so, man kann es in vielen anderen Ländern genauso beobachten. Diese Unterschiedlichkeit verpflichtet uns dazu, einander zuzuhören und uns gegenseitig ernst zu nehmen. Was man nicht machen darf, ist, sich grundsätzlich gegenseitig für Vollidioten halten. Dann kommt es tatsächlich irgendwann zu einer gefährlichen Spaltung. Andersartigkeit ist spannend und nicht prinzipiell gefährlich. Diesen Satz sollten wir uns alle jeden Tag einmal sagen.

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Foto: Soeren Stache, dpa
Foto: Soeren Stache, dpa

In ihrem neuen Roman hat Juli Zeh die Corona-Pandemie verarbeitet.

Sie leben selbst seit langem auf dem Land, wo es im aktuellen Roman ja auch ihre Protagonistin hinzieht – aus Sehnsucht einer Erdung, zu einer unmittelbareren Lebenswirklichkeit. Erleben Sie es selbst ähnlich?

Zeh: Für mich persönlich war es genau das Richtige, aufs Land zu ziehen. Es ist aber sehr individuell, ob man die Provinz genießen kann oder eher Panik bekommt. Zur Zeit zieht es ja sehr viele Menschen aus den Städten heraus. Ich finde das toll, weil es vielleicht wieder für mehr Durchmischung zwischen den Lebensräumen sorgen wird. Aber ob es alle Stadtflüchtlinge glücklich machen wird – da bin ich mir nicht sicher.

Autorin Zeh: "Es tut gut, sich ab und zu mal daran zu erinnern, wie privilegiert wir hier sind"

Zudem verbringen Sie einige Monate im Jahr immer auf Lanzarote, wo auch bereits zwei Ihrer Romane gespielt haben. Ist das die Sehnsucht nach Abstand? Oder auch die Gelegenheit zum Blick von außen auf Deutschland?

Zeh: Seit mein älterer Sohn schulpflichtig ist, fahren wir nicht mehr nach Lanzarote. Wir haben eigentlich eher den deutschen Winter gemieden, also nichts Substanzielles. Es war einfach der Luxus einer freiberuflichen Existenz, der das für ein paar Jahre ermöglicht hat.

Als Mutter zweier Kinder: Wie blicken Sie in deren Zukunft? Mit wie- viel Sorge angesichts der sich abzeichnenden Krisen, wieviel Zuversicht?

Zeh: Ich blicke so wie immer in die Zukunft – mit Neugier, leichter Unruhe und auch einer Riesenportion Dankbarkeit dafür, zu dieser Zeit und in diesem Land geboren worden zu sein. Es tut gut, sich ab und zu mal daran zu erinnern, wie privilegiert wir hier sind, in unserer Epoche, an diesem Ort. Viele, viele Menschen weltweit beneiden uns darum. Angesichts dessen soll man künftige Herausforderungen absolut ernst nehmen, aber es schadet auch nichts, sich immer mal wieder in Demut zu üben.

"Das schafft kein Vertrauen in der Bevölkerung"

Mit einerseits der drohenden Verwerfungen im Inneren und andererseits den großen globalen Herausforderungen steht aber auch die deutsche Politik vor gewaltigen Aufgaben. Zu meistern, so heißt es gerne, sei das nur mit einem neuen Wir-Gefühl. Wie soll das gehen?

Zeh: Wenn man sehr streng sein will, könnte man sagen: Das mit dem Wir-Gefühl ist im Grunde ein ziemlich demokratiefeindlicher Slogan. Gerade in Deutschland sollte man traditionell vor Wir-Gefühlen eher Angst haben. Entscheidend ist vielmehr ein offener und respektvoller Diskurs. Ein Gespräch unter Erwachsenen. Das sorgt für Ausgleich, es motiviert Menschen, es sorgt für Kreativität. Zusätzlich brauchen wir noch Optimismus, eine positive Vision, ein freundliches Bild von Zukunft, für das wir uns anstrengen wollen.

Und wer soll es machen? Vor der letzten Bundestagswahl sind Sie in die SPD eingetreten …

Zeh: Ich bin leider gerade mit allen Parteien ziemlich unglücklich. Der Wahlkampf scheint mir an den Problemlagen recht weit vorbeizugehen. Das ist nicht gesund, es schafft kein Vertrauen der Bevölkerung in die Kandidierenden und ihre Parteien.

In einem Ihrer letzten Romane, „Leere Herzen“, ging es um den Aufstieg der Rechten, assistiert gewissermaßen von Politikerinnen und Politikern anderer Parteien, darunter einer vornamenslos bleibenden Frau Wagenknecht. Nun wird der wirklichen Sahra Wagenknecht aktuell in ihrer Partei genau das vorgeworfen. Ein Personalproblem der Linken oder tatsächlich ein Problem, dass diese die sozialen Themen, für die sie eigentlich stehen will, nicht mehr besetzt, sie sich vielmehr, siehe oben, um die Großstädter kümmert, wie die Grünen ja auch?

Zeh: Das sehe ich als großes Problem. Momentan wurde der sogenannte Klassenkampf – also das Streiten verschiedener sozialer Schichten um einen fairen Ausgleich – durch eine Art Kulturkampf ersetzt. Es geht nicht mehr hauptsächlich um die Frage, wie viel ehrliche Arbeit wert ist, wie viel Geld man im Monat für eine Familie mindestens braucht, was Wohnen kosten darf, ob wir tatsächlich echte Bildungschancen anbieten, ob wir die schwer arbeitende Bevölkerungsschicht wirklich respektieren; wie viel Rente man gewähren muss und so weiter. Stattdessen geht es viel darum, was man denken soll, wie man reden soll, wie man leben soll. Letzteres ist aber nicht Politik im engeren Sinn. Die soziale Frage verschwindet nicht, indem man sie ignoriert. Sie bleibt bestehen. Die Gefahr, dass rechte Parteien dieses Potenzial für sich entdecken, ist sehr groß.

Und wie blicken Sie als Frau des Wortes auf diese teils hitzig und moralisch aufgeladenen Debatten über Sprache, Stichwort Gender und Diversity?

Zeh: Interessant ist, dass ich in den vergangenen zwei Jahrzehnten immer gefragt wurde, warum ich eigentlich Schriftstellerin sei, wo doch Sprache und Wörter sowieso nichts ändern könnten und man nur in der aktiven Politik wirksam und mächtig sei. Es galt: Handeln ist Gold, Reden ist Blech. Nun haben wir plötzlich eine Phase, wo Sprache und Wörter für alles das Problem und auch gleich die Lösung sein sollen. Aber beide Ansichten sind zu extrem und deshalb falsch. Die Wahrheit liegt wie meistens in der Mitte. Und diese Mitte hat Platz für viele Dinge – für respektvolles Sprechen, aber auch für Kunstfreiheit.

Bei der Frequenz, in der Sie zuletzt veröffentlicht haben, müssten Sie inzwischen an einem neuen Buch sitzen. Verraten Sie was? Oder sind Sie jetzt erst mal mit den Verfilmungsplänen von „Über Menschen“ beschäftigt?

Zeh: Ich sitze immer an vielen Texten gleichzeitig, von denen manche fertig werden und die meisten nicht. Was und wann das nächste gedruckte Buch sein wird, kann ich ganz ehrlich nicht sagen – mein Schreiben ist recht sprunghaft und unvorhersehbar für mich selbst.

Zur Person

Juli Zeh, 47, heißt bürgerlich mit Vornamen Julia und seit ihrer Heirat mit Nachnamen Finck – ihr Autorinnenname aber ist einer der großen in der deutschen Literatur. In Bonn geboren, lebte die studierte Juristin und Philosophin lange in Leipzig, zog dann aber ins Havelland in Brandenburg. Ihr aktueller Roman heißt „Über Menschen“ (Luchterhand, 416 Seiten, 22 Euro).

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