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Interview: Alexandra Zipperer ist Tafelgängerin: "Ich sehe das Tafelsystem am Kollabieren"

Interview

Alexandra Zipperer ist Tafelgängerin: "Ich sehe das Tafelsystem am Kollabieren"

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    Buchautorin und Tafelgängerin Alexandra Zipperer: "Es geht mir nicht um Kritik an der Tafel selbst."
    Buchautorin und Tafelgängerin Alexandra Zipperer: "Es geht mir nicht um Kritik an der Tafel selbst." Foto: Harf Zimmermann

    „Tafeln wie Gott in Deutschland“ heißt Ihr eben erschienenes Buch, in dem Sie Ihre eigenen Erfahrungen als Tafelgängerin in Berlin beschreiben. Sie haben als selbstständige Kulturmanagerin, Übersetzerin, Autorin und PR-Managerin gearbeitet. Was hat Sie aus diesem Leben geschleudert? 
    ALEXANDRA ZIPPERER: Ich habe eine schwere psychische und mehrere körperliche Erkrankungen und bin damit seit vielen Jahren berentet. Und da ich auch wegen der Erkrankung nicht lange genug arbeiten konnte, ist eben die Rente so niedrig, dass es ergänzend Grundsicherung gibt. Also, es geht mir wie den meisten bei der Tafel, sie sind aus Krankheitsgründen dort. Das heißt, krank werden ist fast gleichbedeutend mit arm sein.

    Wem begegnen Sie in der Schlange bei der Tafel?
    ZIPPERER: Es ist eine sehr, sehr heterogene Kundschaft. Viele Leute auch mit überraschend hohem Bildungsgrad und erfolgreichen Berufswegen, die eben durch Krankheit aus der Bahn geworfen worden sind, als Freiberufliche nicht genug Geld zur Seite gelegt oder keine Berufsunfähigkeitsversicherung abgeschlossen haben. Vielleicht gibt es auch unter Hundert zwei, auf die das Vorurteil der Schmarotzer, die nicht arbeiten wollen, zutrifft. Und dann gibt es natürlich auch Leute, die mit löchrigen Schuhen, zerrissenen Klamotten und betrunken ankommen und randalieren. Das macht mir den Gang zur Tafel auch sehr schwer. Aber das Gros der Tafelgänger entstammt der Mitte der Gesellschaft.

    Was erfahren Sie in den Gesprächen?
    ZIPPERER: Die Leute erzählen aus ihrem Leben, von ihren Familien. Es wird viel gescherzt, die Frage, ob heute der Wellnessbereich geöffnet ist, kleine Witzchen, um das alles erträglicher zu machen. Die Leute machen sich gegenseitig Geschenke, schenken ihren Freunden also aus dem vollen Trolley etwas, das sie gerade selbst geschenkt bekommen haben. Ein ganz wichtiges Ritual, das denkt man vielleicht gar nicht. Aber in dieser Lage können wir anderen keine Geschenke machen. Wenn ich zum Beispiel zum Geburtstag eingeladen bin, gehe ich nicht hin, weil ich kein Geschenk machen kann. Dann gibt man sich auch Tipps, wo etwas kostenlos zu bekommen ist, wo ein Umsonst-Laden aufgemacht hat, wie die neue Regelung im Sozialkaufhaus ist, oder ob es wieder ein neues Gesetz gibt. 

    Also das, was Sie mit der wichtigen sozialen Funktion der Tafel als Treffpunkt beschreiben. 
    ZIPPERER: Ja. Ich kenne einen Mann, der verlässt seine Wohnung nur, um zur Tafel zu gehen. Er macht das seit 20 Jahren, und für ihn ist es das einzige Fenster nach draußen. Aber der würde sich vielleicht auch in ein normales Café setzen, wenn er das Geld hätte.

    Die ersten Male haben Sie, wie Sie schreiben, vor dem Gang zur Tafel vor Scham geweint. Ist es für Sie erträglicher geworden?
    ZIPPERER: Irgendwann gewöhnt man sich ein bisschen, aber so richtig sexy wird es nie!

    Sie gehen nun seit 15 Jahren zur Tafel, sprechen ironisch von Ihrer Tafelkarriere. Wie hat Ihr Umfeld darauf reagiert? 
    ZIPPERER: Viele meiner Freunde und Bekannten wussten das lange gar nicht. Wenn ich es aber erzählt habe, war es eigentlich so, dass das niemand auch genau wissen wollte. Das ist so ähnlich, wie wenn Leute von Krankheiten erzählen. Da will man nicht gerne drüber sprechen, weil man Angst hat, es könnte einen selbst erwischen. Eine Form der Abwehr. Als jetzt enge Freunde mein Buch gelesen haben, haben sie mir danach gesagt, sei seien fassungslos, sie hätten keine Ahnung gehabt, was ich da jahrzehntelang getrieben habe und wie es da zugeht. 

    Nun also das Buch, in dem Sie mit viel Esprit und auch Witz anhand eines exemplarischen Gangs durch die Tafel von Menschen und Armut in Deutschland erzählen. Was war der Auslöser dafür?
    ZIPPERER: Ich sehe das Thema als absolutes Politikum, es sind ja wirklich Millionen Menschen und auch immer mehr davon betroffen und bedroht. Ich sehe einfach dringend gesellschaftlichen und politischen Handlungsbedarf. 

    Wie lange arbeiten sie schon daran? 
    ZIPPERER: Ich hatte den Plan schon lange und habe mir seit Jahren Notizen gemacht mit den Geschichten und Begegnungen. Vor fünf Jahren hatte ich schon eine Rohfassung fertig. Während der Pandemie habe ich dann eine schwere Angststörung entwickelt, sodass ich jetzt auch gar nicht mehr oft zur Tafel kann, also nur mit Begleitung. Aber diese Distanz hat beim Schreiben geholfen. Ich konnte quasi zur Seite treten, nicht nur die Innensicht beschreiben, sondern auch gleichzeitig ein bisschen von außen draufschauen. Das war, salopp gesagt, sozusagen ein positiver Nebeneffekt der Angststörung und der Pandemie.

    Sie stören sich am Wort Tafelkunde. Warum?
    ZIPPERER: Kunde und Service, das sind ja alles Begriffe, die eine Beziehung auf Augenhöhe beschreiben, und diese Augenhöhe ist durch die Bedürftigkeit und Abhängigkeit nicht gegeben. Ich bin ja auf Kniehöhe. Und insofern ist die Bezeichnung Kunde fast ein bisschen sarkastisch. Aber mir ist bislang auch kein besserer Begriff eingefallen. Am besten wäre, dass die Tafel nicht mehr nötig ist, dann braucht man auch keinen Begriff.

    Sie beschreiben im Buch das unglaubliche Engagement der Ehrenamtlichen, schließen sich aber der Kritik an, die seit langem an der Tafel besteht: Dass sie – als Provisorium gegründet – die Armut verstetigt, weil sie die Aufgabe des Sozialstaats übernimmt.
    ZIPPERER: Es geht mir auf keinen Fall um Kritik an der Tafel selbst. Ich bin da voller Dankbarkeit und Wertschätzung, auch wenn ich diese Art von Unterstützung nicht für den richtigen Weg halte. Es krankt eigentlich daran, dass der Staat sich aus der Verantwortung stiehlt und seine Aufgabe auf eine private Initiative abwälzt, die überhaupt nicht in der Lage ist, diese zu übernehmen. Nur ein Beispiel: Als mein Freund Arno, er ist Heilerziehungspfleger, nach einer Tumoroperation in Hartz IV gerutscht war, hat er seine Sachbearbeiterin damals fassungslos gefragt, wie er denn von so wenig Geld leben solle. Die hat ihn nur angeschnoddert, er könne ja zur Tafel gehen. 

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    In den vergangenen 15 Jahren, wie hat sich aus Ihrer Sicht die Tafel verändert? 
    ZIPPERER: Immer mehr Bedürftige treffen auf ein abnehmendes Hilfsangebot. Ich erlebe an meinen Tafeldienstagen eine zunehmende Spendenknappheit. Das wirkt sich auch auf die Atmosphäre aus, die ist mittlerweile geprägt durch Konflikte zwischen den Bedürftigen und auch zwischen den Bedürftigen und den Ehrenamtlichen in der Ausgabestelle.

    Die Qualität der Lebensmittel ist sehr unterschiedlich, wie Sie schreiben: von tadellosen Tomaten, verschrumpelten Pastinaken bis hin zur innen komplett verfaulten Ananas.
    ZIPPERER: Ja, aber da kann die Tafel nichts dafür, da ist man wirklich bemüht und versucht an allen Ecken und Enden, Spenden einzutreiben, zum Beispiel auch mal ein paar Päckchen Kaffee zu bekommen. Der ist zum Beispiel wirklich selten, manchmal als Extraspende, aber als abgelaufenes Lebensmittel gibt es den so gut wie nie.

    Was wünschen beziehungsweise fordern Sie?
    ZIPPERER: Dass es in diesem Land kein Almosensystem geben darf, sondern eine staatlich gesellschaftliche Lösung gefunden wird. Ich verfüge über 950 Euro im Monat. Nach Abzug all meiner Fixkosten, Miete, Versicherungen, Telekommunikation et cetera bleiben mir 100 Euro im Monat für Essen, Geschenke, Reparaturen. Es geht ja im Grunde nicht darum, dass man ein erhöhtes Konsumlevel braucht oder um Luxusreisen oder teure Elektronik. Es geht um basales Leben in Würde, dass das möglich ist, und das ist im Moment nicht gegeben.

    Vom Protest dagegen ist jedoch wenig spürbar. 
    ZIPPERER: Das hat auch mit dieser Scham zu tun, sich nicht zu outen. Und das andere ist, es geht den Leuten einfach auch oft viel zu schlecht, als dass sie sich solidarisieren und politische Arbeit leisten können. Die haben Mühe, ihren Alltag einigermaßen auf die Reihe zu kriegen. Ich habe da auch nicht viele Kapazitäten.

    Was muss Ihrer Meinung nach geschehen?
    ZIPPERER: Es geschieht jetzt schon einiges. Es gibt diese Initiative #IchBinArmutsbetroffen, gerade jetzt im Mai hat der Kongress #ArmutAbschaffen stattgefunden, ausgerichtet vom Paritätischen Wohlfahrtsverband. Was ich wichtig finde: ein Forum, eine Plattform, wo ein Austausch mit der Politik stattfinden kann, in dem die Realitäten geschildert werden.

    Die Tafeln wurden vor 30 Jahren gegründet. Sie schreiben, das System Tafel sei mittlerweile Die Augsburger Tafel verhängt erneut einen AufnahmestoppAugsburgDie Augsburger Tafel verhängt erneut einen AufnahmestoppAugsburgvöllig überfordert durch eine ständig wachsende Zahl von Bedürftigen, und rechnen mit dem Kollaps.
    ZIPPERER: Ja, das zeichnet sich ab. Das sind meine Erfahrungen vor Ort und das ist ja auch durch Zahlen belegt. Aber vielleicht liegt in diesem Kollaps ja auch eine Chance. Wenn das Almosensystem zusammenbricht, vielleicht wird es dann eine politische Lösung geben. Ich träume jedenfalls voller Zorn und Hoffnung von einer Welt ohne Tafeln in diesem reichen Land. 

    Zur Person

    Alexandra Zipperer, 57, aufgewachsen im unterfränkischen Buchbrunn, ist Kunsthistorikerin und lebt in Berlin. Sie arbeitete dort als Kulturmanagerin, PR-Frau, Autorin und Übersetzerin. Im Berliner Ensemble spielte sie als Darstellerin im Stück "Auf der Straße". Durch Krankheit wurde Alexandra Zipperer selbst zur Tafelgängerin. In ihrem autobiografischen Buch „Tafeln wie Gott in Deutschland“ (Edition Schaumberg, 152 Seiten, 12 Euro) erzählt sie eindrücklich, gestützt auf Zahlen und Daten zur Armut in Deutschland, von einer Parallelwelt. In Deutschland gibt es über 960 Tafeln, die mit rund 60.000 Helferinnen und Helfern jährlich rund 265.000 Tonnen Lebensmittel sammeln und an etwa zwei Millionen Menschen weitergeben.

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