Herr Professor Bellingradt, seit dem 1. Oktober haben Sie eine Gastprofessur am Institut für Europäische Kulturgeschichte inne, die sich der pressehistorischen Sammlung von Martin und Sabine Welke widmet. Martin Welke versuchte ja viele Jahre, die Sammlung in einem Museum aufgehen zu lassen, fand aber keine Partner dafür. Was ist das Ziel Ihrer Arbeit?
Daniel Bellingradt: Am Ende des Projekts soll sichtbar sein, welch ein Schatz hier lagert, und was mit diesem Bestand an Forschung, Vermittlung und Lehre in Zukunft möglich sein kann. Aus der Beschäftigung mit dem Museumsfundus sollen Weiternutzungskonzepte für diese Sammlung entstehen. Auf dem Weg dahin wollen wir einzelne Themen und Materialien herausheben und beleuchten, und sie für Studierende und Fachwissenschaftler in digitalen Formaten zugänglich zu machen.
Was macht diese pressehistorische Sammlung so besonders?
Bellingradt: Die Spannungen zwischen dem Streben nach Pressefreiheit auf der einen und Medienregulationen, wie obrigkeitlichen Zensurbemühungen, auf der anderen Seite sind sicherlich ein Markenkern der Sammlung. Aus meiner wissenschaftlichen Sicht ist der Museumsbestand auch interessant, weil er Mediengeschichte in einem Langzeitblick ermöglicht. Nicht umsonst hat man diese Sammlung als eine der größeren medienhistorischen Sammlungen in Deutschland bezeichnet. Neben der Fachperspektive hat die Sammlung auch einen sehr großen vermittlerischen Wert, weil sie von Beginn für ein Museum konzipiert und aufgebaut wurde, d. h. als Präsentation von Kommunikationsgeschichte.
Warum ist das von Bedeutung?
Bellingradt: Fake News, Alternative Fakten, Zensurvorwürfe, Bestrebungen, Medien für politische Propaganda zu missbrauchen, tatsächliche und unterstellte Manipulationen – all diese uns heute bekannten Aspekte rund um Mediennutzungen und Medienskepsis sind nicht erst seit wenigen Jahren in der Welt, sondern Bestandteile und Ausprägungen von menschlichem Kommunikationsverhalten seit Hunderten von Jahren. Das europäische Nachrichtenwesen mit seinem Variantenreichtum an unterschiedlichen Publikationen und Genres, mit seiner Massenhaftigkeit medialer Botschaften und mit seinen sozialen Auswirkungen auf Kommunikationsverhalten und Kommunikationsströme der Zeit, ist lehrreich und relevant für das Verständnis der heutigen Probleme. Deshalb ist es ein großes Potenzial dieser Sammlung, dieses Verständnis durch weitere Forschung zu vertiefen und in der schulischen wie universitären Lehre zu vermitteln, etwa im Rahmen der medienhistorischen Ausbildung von Lehrerinnen und Lehrern.
Gibt es schon ein Highlight, das Sie beim ersten Sichten in der Sammlung entdeckt haben?
Bellingradt: Mir hat spontan ein Fernschreiber von Siemens aus den 1980er Jahren gefallen, der damals als DPA-"Ticker" an das Telexnetz angeschlossen war. Die Originalmeldung vom 9. November 1989 um 19:13 Uhr ist noch sichtbar: "DDR-Grenze ab sofort für Ausreisende offen". Durch solche Artefakte bekommt Geschichte eine sinnliche Erlebbarkeit. Solche Highlights laden zum historischen Erkunden, Erarbeiten und Erfahren vergangener Kommunikationsprozesse geradezu ein. Vom konkreten Fernschreiber aus öffnet sich das Themenfeld der sogenannten Wendezeit in Ost- und Westdeutschland samt ihrer Nachrichtenwelten.
Die Sammlung Welke orientiert sich stark an Themenbereichen. Sie haben schon die Wende in Deutschland erwähnt, gibt es weitere markante Schwerpunkte?
Bellingradt: Zu den Schwerpunkten gehören sicherlich Themenbereiche wie Pressefreiheit, Zensur, Sozialgeschichte des Nachrichtenkonsums, und noch einige mehr. Es gibt außerdem viele Objekte, die vor allem im Hinblick auf Demokratiegeschichte gesammelt wurden. Da Zeitung vom Wortursprung her "Nachricht von etwas" bedeutet, finden sich in dem Museumsfundus eine Vielzahl medialer Artefakten, die wichtige Aspekte u.a. von Kommunikationssteuerungen und Nachrichtenmanipulationen, von Medienregulationen, von Impulsen einer Politisierung von Öffentlichkeit beleuchten können.
Derzeit steht die Presse im Kreuzfeuer und darüber hinaus gibt es Entwicklungen, in Polen und Ungarn etwa, die auf eine Einschränkung der Pressefreiheit hinauslaufen. Welche Bedeutung hat die Sammlung denn in diesem Kontext?
Bellingradt: Offizielle Mediengesetze und auch informelle Medienregulationen sind in Europa innerhalb des neuzeitlichen Medienverbundes und seiner Kommunikationsbedingungen entstanden, erprobt und gereift. Wenn genehme Medienberichterstattung von regierenden Akteuren regelrecht organisiert wird, dann handelt es sich um Manipulation und Kommunikationssteuerung. Und dieses nicht nur für Europa gültige Grundthema, nämlich dass publizierten, also veröffentlichten, Beobachtungen, eine Relevanz für gesellschaftliche Dynamiken zugesprochen wird, findet sich zuhauf in den Schwerpunkten der Sammlung. Es geht um Macht und Ohnmacht von Medienberichterstattung – und diese Gegenwart hat eine Geschichte, die wir uns in jeder Generation neu erzählen müssen. Hierfür bietet sich die Sammlung besonders an.
Was hat die breite Öffentlichkeit davon, wenn die Sammlung Welke aus der Versenkung geholt wird?
Bellingradt: Mit den Artefakten lassen sich eine Reihe von interessanten und eindrücklichen Geschichten rund um Nachrichten und deren Herstellung, Vertrieb, Konsum und medialen Effekte erzählen. Historisches Storytelling lebt u.a. von Originalen der damaligen Kommunikationsabläufe, um Geschichte auf besondere Art und Weise erlebbar zu machen. Und da die Artefakte der Sammlung gegenwärtige Themen mit ansprechen, verbindet ein gelungenes Storytelling Geschichte mit der Gegenwart.
Gibt es schon Pläne, wie das geschehen soll?
Bellingradt: Die Kooperation hat gerade erst begonnen und läuft zunächst für drei Jahre, so schreibt es der Vertrag zwischen Stiftung und Universität vor. Wenn wir aus dem Projekt heraus ein Zentrum für historische Presseforschung an der Universität Augsburg, verankert am Institut für Europäische Kulturgeschichte, anregen könnten, wäre das kein kleiner Erfolg.
Sie sprechen jetzt von einer Institutionalisierung in Form eines eigenen Lehrstuhls?
Bellingradt: Ein eigenes Institut für historische Presseforschung benötigt mittelfristig fraglos mehr als nur eine Stelle oder Professur. Nur dann lassen sich ein nachhaltiges historisches Profil entwickeln, Forschungsgelder einwerben und mediale Expertise in eine weitere Öffentlichkeit transportieren. Es besteht also in Augsburg die seltene Gelegenheit, die Kooperation mit der Stiftung Deutsches Zeitungsmuseum als Impuls zu nutzen, um in Forschung und Lehre ein einzigartiges Profil in der deutschsprachigen Universitätslandschaft zu erlangen.
Zur Person: Prof. Daniel Bellingradt ist Historiker und Buch- sowie Kommunikationswissenschaftler und Mitherausgeber des "Jahrbuchs für Kommunikationsgeschichte". Derzeit hat er eine Gastprofessur des Instituts für Europäische Kulturgeschichte inne.