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Interview: Hedwig Richter: „Die deutsche Haltung war offensichtlich scheinheilig“

Interview

Hedwig Richter: „Die deutsche Haltung war offensichtlich scheinheilig“

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    Prof. Dr. Hedwig Richter hat den offenen Brief unterzeichnet, der sich für die Lieferung schwerer Waffen an die Ukraine ausspricht.
    Prof. Dr. Hedwig Richter hat den offenen Brief unterzeichnet, der sich für die Lieferung schwerer Waffen an die Ukraine ausspricht. Foto: Fabian Hammerl

    Frau Richter, was hat Sie bewogen, den zweiten offenen Brief zu unterschreiben, der sich für die Lieferung schwerer Waffen an die Ukraine ausspricht?

    Hedwig Richter: Der empörte Anruf eines israelischen Freundes nach dem ersten Brief: „Sag mal! Was ist denn mit Euren Intellektuellen los!“ Ich dachte ja eigentlich, dass es genug offene Briefe in dieser Welt gibt. Aber Ralf Fücks hatte recht: Dieser andere offene Brief musste sein, als Antwort. Schließlich sieht eine Mehrheit der Deutschen das anders und ist für die Lieferung schwerer Waffen.

    Warum sind Sie dafür, die Ukraine mit Panzern und Haubitzen aus Deutschland auszustatten?

    Richter: Weil ich nicht in einem Europa leben will, in dem das Faustrecht gilt. Russland hat die Friedensordnung zerstört. Es will ein Europa, in dem es nicht um Demokratie und Menschenwürde geht, sondern um imperiale Herrlichkeit und um die Macht des Stärkeren. Gewalt statt Gerechtigkeit. Putin hat in Europa eine Demokratie angegriffen, weil sie eine Demokratie ist. Die Ukraine verteidigt sich selbst. Aber zu Recht wird gesagt: Sie verteidigt auch die freie Welt. Die Ukraine kämpft unseren Kampf für Menschenwürde.

    Was ging Ihnen durch den Kopf, als Sie vom ersten offenen Brief in der Zeitschrift Emma erfahren haben?

    Richter: Ich war nicht besonders überrascht. Einige der Unterzeichnerinnen und Unterzeichnern haben sich schon zuvor dadurch ausgezeichnet, dass sie einen Konsens angegriffen haben, der in der Gesellschaft mit vielen Argumenten mühsam errungen worden war. Dieser Konsens – etwa für Corona-Schutzmaßnahmen – stützt sich zum Beispiel auf wissenschaftliche Expertise, aber auch auf ein ziviles Grundverständnis von Gerechtigkeit. Ich denke, diese Intellektuellen pflegen dabei teilweise eine typische deutsche Attitüde: Querkopfsein ist per se gut.

    Was ist aus Ihrer Sicht der argumentative Kardinalfehler der Gegner schwerer Waffenlieferungen? Deren Position ist mit Ciceros Ausspruch der ungerechte Friede sei besser als der gerechte Krieg treffend zusammengefasst. Das klingt doch überzeugend.

    Richter: Keine Frage: Friede ist kostbar. Krieg ist schrecklich. Das ist in der Bundesrepublik des 21. Jahrhunderts Konsens. Aber wer will in einem Europa leben, das Gewalt belohnt und Zivilität bestraft? Wer will den Frieden des Vergewaltigers? Der Denkfehler liegt darin zu glauben, dass Putin einen Kompromiss will, dass er aufhört, wenn wir ihn beschwichtigen. Er hat zuvor schon nicht aufgehört; nach jedem Verbrechen hat man ihn weiter umworben. Vor allem die Deutschen haben lieber weiter mit ihm Geschäfte getrieben. All das hat ihn zu mehr Gewalt ermuntert. Es ist auch ein Irrtum zu glauben, dass wir weiterleben können wie zuvor, wenn wir nur die Ukraine preisgeben.

    Die Unterzeichner des ersten Briefes hat eine Welle der Empörung, der Anfeindungen und des Abrechnens ausgelöst. Überlegt man da als Wissenschaftlerin dreimal, ob man sich inhaltlich kontrovers positioniert?

    Richter: Ich finde die Empörung tatsächlich unangemessen, wenn sie nicht auf der sachlichen Ebene kritisiert, sondern persönlich attackiert. Grade wenn es gegen Frauen geht, in diesem Fall vor allem Alice Schwarzer, dann mündet die Auseinandersetzung schnell in Misogynie. Das lenkt von den Gegenargumenten und von der Diskussion ab.

    Können Sie die andere Seite verstehen und halten Sie deren Argumente für falsch, aber legitim? Robert Habeck und Olaf Scholz haben ja gesagt, dass sie nachvollziehen können, warum jemand gegen die Aufrüstung der Ukraine mit todbringendem Gerät ist.

    Richter: Ich finde es richtig, dass Deutsche kritisch und zurückhaltend sind, wenn es um Militär und Waffen geht. Und ich sehe niemanden, der hier mit Hurrageschrei den Krieg bejubelt. Aber die deutsche Haltung war schon lange offensichtlich scheinheilig: Wir hatten eine Armee, aber die sollte erst gar nicht in der Lage sein zu kämpfen. Selbst die vielen Milliarden der letzten Jahre wurden so eingesetzt, dass sie letztlich die Kampfbereitschaft nicht gefördert, sondern schon eher torpediert haben. Jeder Idiot hat sich ermächtigt gefühlt, Soldaten im Zug anzupöbeln, und nicht wenige Eliten in der Politik und Kultur haben die Nato wohlfeil zum Hort der Menschenverachtung erklärt. Dabei musste man nicht besonders scharfsinnig sein, um zu erkennen, dass wir auf ihren Schutz angewiesen sind.

    Waren Sie persönlich vor dem Krieg in der Ukraine dafür, Waffen – auch schwere – in Kriegsgebiete zu senden, oder hat sich Ihre Meinung durch den Überfall geändert?

    Richter: Ja, ich habe meine Meinung geändert. Obwohl ich schon davor als Transatlantikerin davon überzeugt war, dass wir eine starke Nato brauchen, und die Bundeswehr fairerweise sich nicht ins Abseits stellen sollte. Ich kann verstehen, dass es für andere ein weiterer Weg ist. Ich finde übrigens, dass Olaf Scholz seiner Aufgabe als Kanzler gerecht wird: Er muss ja auch die ganze alte SPD mit ins unbequeme 21. Jahrhundert nehmen. Mein Eindruck ist, dass ihm das gelingt.

    Was glauben Sie, bleibt die Unterstützung der Ukraine mit schwerem Kriegsgerät ein Einzelfall – oder wird er Präzedenzfall für die Zeitenwende?

    Richter: Der Westen, also die Welt der liberalen Demokratien, hat signalisiert, dass er die Logik der Gewalt nicht akzeptiert. Das gilt auch für die Zukunft. Putin ist kein Hitler; wir sehen auch nicht annähernd ein Verbrechen, das etwas wie dem Holocaust nahekommt. Und doch ist eine Lehre aus der Geschichte, dass Demokratie wehrfähig sein muss. Jede kluge Regierung in Deutschland wird auch künftig sorgfältig abwägen, wann Deutschland militärisch hilft oder eingreift. Aber für unsere Republik haben die Bequemlichkeit und Scheinheiligkeit ein Ende. Die alte Bundesrepublik hat aufgehört zu existieren. Das ist irgendwie traurig. Es ist sehr unbequem. Aber es ist richtig. Wir leben in einer neuen Demokratie.

    Sie sind Historikerin an der Universität der Bundeswehr in München und haben dort mit der Truppe beinahe täglich Berührung. War Ihnen klar, wie desolat der Zustand unserer Armee ist?

    Richter: Die Studierenden erzählen jeden Tag davon. Sie machen Witze darüber. Als einmal zu einer Podiumsdiskussion ein General an der Uni war und behauptete, es sei doch alles in schönster Ordnung in der Bundeswehr, da waren sie danach richtig empört. Die Soldatinnen und Soldaten, die ich kenne, sind sehr selbstkritisch und nüchtern. Und trotzdem konnte ich mir das Ausmaß nicht vorstellen.

    Prof. Dr. Hedwig Richter hat den offenen Brief unterzeichnet, der sich für die Lieferung schwerer Waffen an die Ukraine ausspricht.
    Prof. Dr. Hedwig Richter hat den offenen Brief unterzeichnet, der sich für die Lieferung schwerer Waffen an die Ukraine ausspricht. Foto: Fabian Hammerl

    Sie blicken qua Beruf auf die langen Linien und Kipppunkte der Geschichte unseres Landes. Müssen die Deutschen als Lehre aus Putins Krieg wieder lernen, kampfbereit zu sein?

    Richter: Ja, leider. Von heute aus, erscheint es banal: Klar muss eine Demokratie ihr Land verteidigen können. Es war unanständig, dass wir diese Aufgabe unseren Verbündeten überlassen haben, und uns dafür sogar noch moralisch für überlegen hielten.

    Heißt das auch, dem Militär wieder eine höhere Anerkennung zukommen zu lassen, wie es zum Beispiel in Frankreich und England noch der Fall ist?

    Richter: Ich finde es richtig, wenn die Deutschen kritisch bleiben, wenn sie Militarismus verabscheuen, wenn das deutsche Militär eine nüchterne Angelegenheit bleibt; keine Militärparaden. Mir gefallen die Offiziere, die ich als Studierende haben: Sie sind nüchtern, bescheiden, aber auch entschieden. Diese jungen Menschen sind wirklich bereit, ihr Leben für die Demokratie herzugeben. Das gehört zu den Dingen, die sie bei Diskussionen immer wieder betonen. Ich fände es gut, wenn das mehr ins öffentliche Bewusstsein dringt, wenn sie künftig mehr Respekt erfahren.

    Wenn Sie nach vorne schauen – welche Friedensordnung wird es in Europa künftig geben?

    Richter: Als Historikerin bin ich ja nicht für die Prognosen zuständig. Als Bürgerin bin ich trotz allem optimistisch: Russlands Angriffskrieg hat gezeigt, für wie wertvoll die Menschen die Demokratie halten. In der Ukraine geben die Menschen dafür ihr Leben, und Europa rauft sich zusammen und ist vereint und stark. Weltweite Umfragen bestätigen immer wieder: Überall wünschen sich die Menschen mit großer Mehrheit die Demokratie. Das gilt besonders für Europa. Die Autokraten hingegen müssen ihre Unfreiheit mit roher Gewalt durchsetzen. Ich bin mir sicher, dass der Demokratie die Zukunft gehört. Falls die Menschen nicht zuvor noch den Planeten zerstören.

    Zur Debatte

    Vor anderthalb Wochen haben 28 Intellektuelle um Alice Schwarzer einen offenen Brief an Kanzler Olaf Scholz geschickt, in dem sie ihn baten, keine schweren Waffen an die Ukraine zu liefen. Mitverfasser war der Jurist Prof. Reinhard Merkel. In dem Brief hieß es, dass Kanzler Scholz zu einem Waffenstillstand beitragen soll. Umstritten war vor allem folgende Passage: „Die zweite Grenzlinie ist das Maß an Zerstörung und menschlichem Leid unter der ukrainischen Zivilbevölkerung. Selbst der berechtigte Widerstand gegen einen Aggressor steht dazu irgendwann in einem unerträglichen Missverhältnis.“ Auf Change.org haben bereits 270.000 Menschen diesen Brief mitunterzeichnet.

    Vor einer Woche ist im Online-Portal der Zeit ein Gegenaufruf verfasst worden – initiiert von Ralf Fücks, mitunterzeichnet unter anderem von Literaturnobelpreisträgerin Herta Müller und der Historikerin Prof. Hedwig Richter. Sie unterstützen den Kanzler, schwere Waffen an die Ukraine zu liefern. Dort heißt es: „Wer einen Verhandlungsfrieden will, der nicht auf die Unterwerfung der Ukraine unter die russischen Forderungen hinausläuft, muss ihre Verteidigungsfähigkeit stärken und die Kriegsfähigkeit Russlands maximal schwächen.“ Dieser Aufruf ist bislang von 66.000 Menschen unterzeichnet worden.

    Wir haben das Gespräch mit beiden Seiten gesucht und sowohl mit Prof. Hedwig Richter als auch mit Prof. Reinhard Merkel jeweils ein Interview geführt.

    Zur Person

    Hedwig Richter, 1973 in Urach geboren, ist Professorin für Neue und Neueste Geschichte an der Universität der Bundeswehr in München. Ihr Buch „Demokratie. Eine deutsche Affäre“ entfachte eine Kontroverse.

    Zur Gegenposition von Prof. Reinhard Merkel geht es hier.

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