Herr Welzer, es heißt, die Deutschen seien besonders auf Sicherheit und Stabilität bedacht. Was sagt der Soziologe, stimmt das?
Harald Welzer: Ob es einen sogenannten Nationalcharakter gibt, ist eher fraglich, insbesondere weil man in so modernen, auch migrantisch geprägten Gesellschaften, wie wir sie heute haben, gar nicht weiß, ob diese alten Klischees denn einer Prüfung in der Wirklichkeit standhalten würden.
Aber in der Struktur, in der diese Gesellschaft funktioniert und sich organisiert, müsste es doch erkennbar sein.
Welzer: Wir haben nach wie vor sehr gut funktionierende Institutionen, und die garantieren tatsächlich ein hohes Maß an gesellschaftlicher Stabilität. In der Geschichte der Bundesrepublik hat ja keine schwere, im Sinne von nicht bewältigbare Krise stattgefunden. Und selbst da, wo die mediale Aufregung wie etwa 2015 im Spätsommer, in der Flüchtlingskrise, groß war, sieht man, dass die Institutionen eigentlich gut funktionieren. Wenn der Rauch sich verzogen hat, interessiert sich nur keiner mehr dafür.
Was heißt das nun für die sich aktuell abzeichnende Situation, die, apropos mediale Aufregung, etwa vom Stern als „Deutschlands größte Krise“ beschrieben wird?
Welzer: Einerseits gilt, was der Philosoph Odo Marquard einmal gesagt hat: Es ist immer mehr Nicht-Krise als Krise. Wir übersehen, was eigentlich alles funktioniert. Und wenn mal etwas nicht funktioniert und man dann erschüttert ist oder sich darüber aufregt, muss man das eigentlich vor dem Hintergrund dessen betrachten, wie viel eigentlich funktioniert – deshalb fällt es ja auf. Auf der anderen Seite haben wir aktuell aber durchaus das Problem, dass die Krisenereignisse, die auch eine so reiche und gut organisierte Gesellschaft betreffen, immer zahlreicher werden. Und dass dementsprechend die Bewältigungskapazitäten auch an die Grenzen kommen.
Mit Ukraine-Krieg und der Energiepreis-Krise haben wir für den kommenden Winter ein echtes Problem. Und das Problem wird sich deshalb umso stärker auswirken, weil die Leute hierzulande das halt nicht gewohnt sind. Wenn man davon ausgeht, dass immer alles wie am Schnürchen läuft, und man schon Twitter-Anfälle kriegt, wenn irgendwo ein Bus zu spät kommt, dann wirken sich solche Sachen natürlich schlimmer aus als in Gesellschaften, wo Dysfunktion oder Armut oder Einschränkungen eine Sache der alltäglichen Erfahrung sind.
Kanzler Scholz zeigte sich neulich sicher, es werde keinen Aufruhr in Deutschland geben, und versicherte dazu, dieses sei ein Sozialstaat und der werde als solches auch weiter funktionieren – ein Zeichen der Zuversicht gegen allzu viel Krisenstimmung?
Welzer: Das macht er natürlich aus politisch klugen Gründen, weil man ja auf der Seite der Rechten, des Rechtspopulismus und der Querdenker-Milieus schon aufrüstet und Proteste herbeiwünscht, von denen man meint, man könnte sie dann auf die eigenen Mühlen gießen. Das mit dem Virus ist durch, das ist jetzt eben die nächste Gelegenheit.
Aber wie berechtigt ist die Zuversicht, dass die Menschen auch bereit sind zum „Unterhaken“, wie es Scholz immer nennt?
Welzer: Das ist natürlich Folklore: Die Vorstellung, dass da jetzt die Giga-Solidarität ausbricht und wir wie im Nachkriegswinter ‘46 zusammenstehen … – so sind Menschen ja nicht. Niemand wird sich unterhaken. Je nach ihrer wirtschaftlichen Lage werden die Leute mehr oder weniger leiden und größere oder kleinere Probleme haben, und der Staat wird alle Hände voll zu tun haben, das in irgendeiner Weise noch aufzufangen, was da an wirtschaftlichen Problemen auf die Ärmeren zukommt.
Man muss das ja ausdifferenzieren, weil es gesellschaftliche Gruppen gibt, die müssen zwar tiefer in die Tasche greifen und mit Einschränkungen rechnen, das macht denen existenziell letztlich aber nichts. Da muss man auch ehrlich sein und es dem Kollegen Lindner auch 24 Mal am Tag sagen, dass man diese Krise nicht bewältigen kann, indem man alle bedenkt, auch die Wohlhabenden. Aber so wenig wie es dieses Unterhaken geben wird, so wenig wird es so etwas wie Volksaufstände geben. Dazu ist die Situation insgesamt zu stabil.
Im Wechsel und der Häufung der vielen Krisen der vergangenen Jahre hieß es bereits, es sei zu befürchten, dass das Vertrauen in die Politik verloren ginge. Zumal wenn der Wohlstand, auf dem eine Demokratie am stabilsten stehe, zu bröckeln beginne. Wie sehen Sie das in der jetzigen Situation?
Welzer: Ich sehe dafür keine Hinweise. Die Reaktion der Bevölkerung in der Pandemie halte ich da für sehr aufschlussreich. Wir haben die ganze Zeit in Umfragen zu schärferen Maßnahmen in aller Regel zu mehr als zwei Drittel, meist knapp unter 80 Prozent an Zustimmung gesehen. Das basierte auch darauf, dass die Leute sich an der Wissenschaft orientieren. Und das ist doch interessant, dass gerade dort, wo Einschränkungen manifest sind und wo viele Leute auch wirtschaftlich teils stark darunter gelitten haben, man in diesem Lande einer rationalen Politik eher zustimmt als einer irrationalen. Was ich in der Politik vermisse, ist, dass das auch hinreichend gewürdigt wird.
Inwiefern?
Welzer: Eine Demokratie funktioniert ja tatsächlich nur mit einer Zivilgesellschaft, die sich beteiligt und die auch Maßnahmen zustimmen kann, die zu eigenen Einschränkungen führen. Das haben die Deutschen in den letzten Jahren ziemlich grandios unter Beweis gestellt. Und unsere Gesellschaft funktioniert ja auch deswegen so gut, weil es eine unglaubliche Beteiligung am Ehrenamt gibt. Auch das wird viel zu wenig gewürdigt, politisch, aber auch medial.
Wir haben stattdessen stets die Aufmerksamkeit für das, was nicht funktioniert, und dazu eine viel zu große Aufmerksamkeit für die im Vergleich etwa zu Italien und Frankreich sehr kleine Minderheit der Klamauk- und Idiotenfraktion der Gesellschaft, die diese wichtig und bedeutend erscheinen lässt, obwohl sie das nicht ist. Die aber tatsächlich wichtig und bedeutsam sind, die nämlich ordentlich ihre Sachen machen und zum Gemeinwohl beitragen, die sieht man praktisch gar nicht. Und genauso gilt: Es steht alles bei uns recht gut für die Demokratie. Aber in dem ganzen „O Gott, Krise!“ sieht man auch das viel zu wenig.
Das heißt, eigentlich hätte die Politik Grund, ihrer Bevölkerung viel mehr zu vertrauen?
Welzer: Absolut! Wir haben trotz all dieser Krisen ja noch eine sehr hohe Systemzustimmung. Anders als beispielsweise in Frankreich, in England oder in den USA, wo die Gesellschaften schon gespalten, am Auseinanderbrechen oder bereits auseinandergebrochen sind, haben wir da ein großes soziales Kapital. Und da wirken Agentur-rhetoriken wie Scholz mit seinem „Unterhaken“ nun wirklich dämlich. Das ist lächerlich, und das nehmen vor allem die Leute auch gar nicht ernst. Diese Gesellschaft hat sich in den letzten Krisen als absolut krisenfest erwiesen. Und das in einer durch mediale Daueraufregung reizbaren Gesamtatmosphäre.
Gebärdet sich die Politik da also viel zu sehr selbst als die für Stabilität und Sicherheit sorgende Kraft und übersieht so die Basis, die dafür hier ja noch intakt wäre?
Welzer: Das sehe ich so, ja. Einerseits wird, was die Bürgerschaft macht, viel zu wenig geschätzt. Und auf der anderen Seite ist die Inanspruchnahme von Lösungskompetenz, die die Politik vorträgt, ja umso weniger einlösbar, je stärker die Krisenerscheinungen werden. Ich betrachte wirklich mit Sorge, dass da die ganze Zeit und wie selbstverständlich irgendwelche Entlastungspakete geschnürt werden – als könnte der Staat jede Härte abfedern. Das kann er nicht, das muss er ja aber in einer Gesellschaft auch gar nicht. Als wäre oben die Versorgungsinstanz, und unten müssten alle zufriedengestellt werden – das ist eine völlig falsche Vorstellung.
Sie passt aber doch zum Befund, in unserer sicherheits- und stabilitätsfreudigen Wohlstandsgesellschaft habe sich eine Art Vollkasko-Mentalität breitgemacht.
Welzer: Das bedingt sich gegenseitig. Je mehr Politik verbal so agiert, als könnte sie alles lösen, desto mehr verlassen sich die Leute darauf und denken auch, das stünde ihnen zu – als sei Politik ein Liefersystem. Und wenn die Politik aber nicht liefert, werden alle ganz doll böse. Das haben wiederum Politiker, zumal in der heute sehr viel stärker personalisierten medialen Berichterstattung, schon sehr stark verinnerlicht, sodass sie meinen, auftreten zu müssen, als könnten sie alles lösen.
Aber was Robert Habeck derzeit so beliebt macht, ist, dass er das eben nicht macht. Der liefert immer eine doppelte Erzählung: dass die Politik sich bemüht, die Lösungen hinzukriegen, aber dass es schwierig ist. Das ist eine ganze andere Rhetorik als die Scholz-Rhetorik. Und die Leute sind ja nicht doof. Die wissen doch alle, dass es im Moment alles ein totales Debakel ist. Da muss man ihnen doch nicht erzählen, wie so kleinen Kindern: Wir sorgen für euch. Das ist doch Schwachsinn!
Hat sich diese Pose in den Merkel-Jahren so eingebürgert?
Welzer: Ja, auf der Grundlage unter anderem der Hartz-Reformen unter Rot-Grün kam mit ihr zum stabilen Wachstum und sicherem Wohlstand eine Übermutter in der Politik, die sagt: Wir kriegen das schon hin. Passt gut zusammen, aber macht weder Politik noch Gesellschaft krisentauglich.
Was lässt sich für eine in Zukunft weiter krisensichere Gesellschaft aus der Situation heute lernen?
Welzer: Man hätte viel, viel früher anfangen müssen zu kommunizieren, dass das Leben nicht mehr so schön weitergeht. Dass die Folgen des Klimawandels bedeuten werden, dass Energieverbrauch und wirtschaftliche Praktiken geändert werden müssen. Es war falsch, den Leuten zu erzählen: Ja, ja, wir bekämpfen den Klimawandel, aber die Autos werden trotzdem immer größer, und das ist ganz toll. Eine vorausschauende Politik muss künftige Veränderungen kommunizieren, auch negative.
Wenn sie das nicht tut, ruft sie damit das in einer intakten Bürgergesellschaft vorhandene Potenzial zu Einsicht und Mitwirkung nicht ab. Es gibt dagegen immer die Erzählung: Ja, wenn wir so etwas sagen, dann werden wir nicht gewählt. Aber ich glaube das nicht. Ich glaube, die Menschen sind klüger, erst recht in einer Wissensgesellschaft.
Zum Beispiel?
Welzer: Mark Rutte hat in den Niederlanden, als dort die Geschwindigkeitsbegrenzung auf 100 Stundenkilometer eingeführt wurde, öffentlich gesagt: Ich weiß, das macht keinen Spaß, das ist doof – aber wir müssen es leider machen. Und so eine Form von Kommunikation, die haben wir, siehe Merkel, völlig verlernt. Die umweltbedingten Krisen werden uns ja nicht mehr verlassen, das heißt: Das Leben wird eh schlechter werden, in vielerlei Hinsicht. Und das fatale Versäumnis, das angemessen und rechtzeitig zu kommunizieren, lässt sich da nun leider nicht mehr aufholen. Aber fortan sollte doch klar sein, dass Schluss sein muss mit einer Politik, die daherkommt wie Folklore und ihre Botschaften verpackt, als hätte sie es mit Kindern zu tun, denen eine Schluckimpfung auf einem Zuckerchen serviert werden muss. Wir sind alle erwachsen, und so würde ich der Politik auch raten, dass sie die Leute mal so behandelt.
In dieser Serie stellen wir die Frage: Wie schaffen wir das? Wie können wir die multiplen Krisen, die die Welt in Atem halten, meistern? Hier lesen Sie Teil 4. Hier finden Sie die anderen Artikel aus der Serie:
- Teil 1: Wie Deutschland die Zeitenwende meistern kann
- Teil 2: Edzard Reuter: "Die Politik braucht eine klare Haltung, eine Meinung"
- Teil 3: Der Wohlstand erodiert: Was jetzt getan werden kann
- Teil 5: Wie wir einen Wut-Winter verhindern