Die Aussicht auf Berlin ist gigantisch, selbst an einem trüben Tag. Die neuen Büroräume von Claudia Roth haben es in sich: Kanzleramt, achter Stock, eine Etage über Olaf Scholz, darüber kommt der Berliner Himmel. Von der Dachterrasse aus zeigt Roth auf den Vorplatz, dorthin wo immer demonstriert wird. Sie habe da vor dem Zaun selbst oft genug gestanden. Jetzt sitzt sie selbst in der Regierungszentrale und richtet dort gerade ihr Büro ein. Bevor das Gespräch beginnt, bestellt Roth offiziell für das Kanzleramt eine Abonnement der Augsburger Allgemeinen.
Frau Roth, Sie sind jetzt Kulturstaatsministerin. Herzlichen Glückwunsch. Aber jetzt mal ehrlich – Sie und die graue Arbeit der Verwaltung – passt das zusammen?
Claudia Roth: Ich war acht Jahre Vizepräsidentin des Deutschen Bundestages. Da haben auch manche gedacht: Wie passt das zusammen? Wenn jemand wie ich mit meiner Biographie Vizepräsidentin sein kann und dort Vorsitzende der Mitarbeiter*innen-Kommission war, dann geht das in meinem neuen Amt erst recht. Ich bin ja auch nicht die Verwaltungschefin dieses Ressorts, sondern das machen ganz erfahrene und tolle Menschen.
Wie überrascht waren Sie, dass Sie aus den Koalitionsverhandlungen als neue Kulturstaatsministerin hervorgegangen sind?
Roth: Sehr. Die Besetzung der Ministerien war in den Koalitionsverhandlungen bis zum Schluss offen. In der letzten Nacht schälte sich heraus, dass eine Frau von den Grünen das Kulturressort übernehmen soll. Und dann war der Weg zu mir nicht allzu weit.
Wer hat Sie angerufen?
Roth: Das weiß ich gar nicht mehr. Habe ich eine SMS von Robert Habeck oder Annalena Baerbock bekommen? Es war jedenfalls eine große Überraschung. Und dann atmest du erst einmal durch und denkst: Meine Güte, was kommt da jetzt auf dich zu? Wir haben in den Koalitionsverhandlungen den Bereich sehr gestärkt.
Was bedeutet das für Sie persönlich?
Roth: Bei mir schließt sich ein Kreis im Leben. Ich komme aus dem Theater, ich bin mit der Band „Ton Steine Scherben“ jahrelang getourt. Die Kultur ist die eine Liebe, die in meinem Herzen schlägt. Die andere Liebe ist die zur Demokratie. Durch die Begegnung mit den Antidemokraten im Bundestag ist diese Leidenschaft in den vergangenen Jahren noch einmal massiv gewachsen. Menschen zusammenzubringen für die Demokratie, das sehe ich als eine große und wichtige Aufgabe für mich als Kulturstaatsministerin.
Ihre Vorgängerin Monika Grütters hatte sich sehr stark um die großen Institutionen gekümmert, wie zum Beispiel die Preußenstiftung mit ihren Schlössern und Museen oder die Berliner Philharmoniker. Wollen Sie da etwas anders machen?
Roth: Ich will hier überhaupt nicht die Kritikerin meiner Vorgängerin geben. Monika Grütters hat unheimlich viel erreicht für die Kultur. Für mich kommt es jetzt ganz stark darauf an, dass am Ende des zweiten Jahres der Pandemie keine Kultur verloren geht. Und für mich ist Kultur nicht nur Oper und Theater, sondern auch der Plattenladen und der Club. Für viele gerade in der Freien Szene ist es wirtschaftlich extrem schwierig gerade.
Sehen Sie ein Ungleichgewicht in der Kulturförderung zwischen Hoch- und Populärkultur? Theater, Orchester und Museen werden traditionell sehr stark subventioniert, die freie Szene muss jedes Jahr um Staatsgeld kämpfen.
Roth: Ich will dem Staatstheater nichts wegnehmen, um damit die Clubs zu unterstützen. Soweit kommt’s noch. Es darf kein Entweder-Oder geben, wir brauchen ein Sowohl-als-auch. Und wir müssen verstärkt junge Leute und Menschen mit Migrationsgeschichte ansprechen. Dafür gilt es Mauern zu überwinden. Es gibt zum Beispiel ein wunderbares deutsch-türkisches Filmfestival in Nürnberg. Ich war ein paar Mal dort. Wenn man da hingeht, gibt es nur eine Handvoll Gäste nicht-türkischer Herkunft. Das will ich ändern.
Wie wollen Sie das tun?
Roth: Wir wollen ein Kulturplenum ins Leben rufen, in dem wir die unterschiedlichen Ebenen und Akteurinnen und Akteure zusammenbringen, um damit Mauern abzutragen.
Sie sind jetzt die einzige bayerische Ministerin. Hat sich Markus Söder schon gemeldet und seine Wünsche angemeldet?
Roth: Nein, aber ich finde es auch nicht richtig, im Kabinett vorrangig bayerische Interessen zu vertreten wie manche aus der CSU das getan haben. Deswegen hat mich die larmoyante Kommentierung gewundert, dass Bayern jetzt abgehängt ist. Man könnte auch sagen: Es ist doch cool, jetzt ist Claudia Roth aus dem bayerischen Schwaben mit im Kabinett. Aber das fällt einigen wohl schwer.
Aber Sie kommen doch gut aus mit der CSU?
Roth: Ja, mit einzelnen Leuten. Die Kolleginnen und Kollegen aus dem Bundestag haben sich gemeldet, die zum Beispiel ein Chorfestival in ihrem Wahlkreis haben. Und der bayerische Kulturminister Sibler hat sich gemeldet. Von Markus Söder habe ich noch nichts gehört, aber wir kennen uns ja gut, da wird schon noch etwas kommen.
Apropos Bayern. Ein anderer Bayer ist bei der Vergabe der Ministerposten leer ausgegangen. Toni Hofreiter fiel durch, Sie haben ihn getröstet. Hofreiter ist der Anführer des linken Flügels. Und Sie sind sauer. Ist die Balance bei den Grünen gestört?
Roth: Nein. Es waren sechs Ressorts, die wir besetzen konnten. Es gab zentrale Vorgaben, die wir bei den Grünen haben. Bei uns gilt die Parität zwischen Männern und Frauen, wir bekennen uns zur Diversität. Und das muss sich dann in der Besetzung abbilden. Es gibt natürlich Flügel in der Partei, aber die arbeiten nicht gegeneinander, wie man bei der Wahl zum Fraktionsvorstand sehen konnte. Das wird auch bei der Wahl zum Bundesvorstand im Januar deutlich werden. Ich kann den Schmerz von Toni Hofreiter gut nachempfinden. Es war ein schwieriger Moment. Er hat den Wunsch geäußert, den Vorsitz im Europaausschuss zu übernehmen. Das wird er sehr gut machen.
Wir befinden uns gerade mitten in der vierten Corona-Welle. Viele Veranstaltungen sind wieder abgesagt worden, in hart betroffenen Gebieten dürfen Säle nicht mehr voll belegt werden. Viele in den Kultur- und den künstlerischen Berufen bangen um ihre Existenz. Wie sehen die Hilfen jetzt aus?
Roth: Die Pandemie in den Griff zu bekommen hat große Priorität. Es gibt auch Licht am Ende des Tunnels. Die Booster-Kampagne wirkt zum Beispiel sehr gut. Aber für Entwarnung gibt es noch keinen Grund. Mit den Kolleginnen und Kollegen aus Bund und Ländern werde ich gemeinsam besprechen, wie das, was gut war, weiter möglich sein wird – etwa das Förderprogramm Neustart Kultur oder die erweiterten Hinzuverdienstmöglichkeiten bei der Künstlersozialkasse. Wir schauen auch, wie wir zum Beispiel so ein wunderbares kleines Kino wie etwa das Liliom in Augsburg erhalten können. Bislang hat das funktioniert. Von den über 1700 Kinos in Deutschland mussten nach unseren Erkenntnissen wegen der Pandemie lediglich acht geschlossen werden.
Wann gibt es Erleichterungen für Veranstalter und Veranstalterinnen?
Roth: Je mehr Menschen geimpft sind, je mehr geboostert sind, desto eher können auch wieder die Zugänge zu Veranstaltungen gelockert werden. Es sind übrigens gerade die Kultureinrichtungen, die sich wahnsinnig viele Gedanken über Hygienemaßnahmen gemacht haben und sehr gut ausgearbeitet haben, wie Infektionen verhindert werden können.
Wo Sie das Augsburger Kino erwähnt haben. Was bedeutet das für Augsburg und die Region, wenn die Kulturstaatsministerin aus Augsburg kommt?
Roth: Ich bin stolz wie Bolle auf diese Kulturstadt Augsburg. Künstlerinnen und Künstler aus Augsburg haben mich stark geprägt, vor allem Bertolt Brecht. Da bilden sich die Berliner ein, dass er ihnen gehört. Das stimmt aber nicht, er stammt aus Augsburg.
Das heißt, dass Augsburg jetzt auch eine starke Fürsprecherin in Ihnen hat?
Roth: Total. Anknüpfungspunkte gibt es viele. Im Koalitionsvertrag steht zum Beispiel, dass wir eine Stiftung für das industrielle Welterbe auf den Weg bringen wollen. Augsburg hat früher zu den großen Textilstandorten Europas gehört und steht deshalb genauso für das dieses Erbe wie das Ruhrgebiet.
Frau Roth, Sie sind auch Fan des FCA. Was hat der Fußball von Ihnen zu erwarten?
Roth: Oh ja, da habe ich etwas vor. Für die Europameisterschaft 2024 wird es ein Kulturprogramm geben, um das wir uns mit kümmern werden. Das freut mich.
Haben Sie da schon eine Idee?
Roth: Ja, denn da schlägt mein Fußballerinnenherz. Seit 2007 bin ich in der DFB-Kulturstiftung. Für die Frauenfußball-WM 2011 haben wir zum Beispiel auch in Augsburg ein kulturelles Rahmenprogramm mit auf den Weg gebracht. Außerdem bin ich Mitglied des Kuratoriums des Deutschen Fußballmuseums in Dortmund.
Kultur soll ein Staatsziel werden …
Roth: Ja, dafür brauche ich eine Zweidrittelmehrheit.
Was könnte so etwas verändern?
Roth: Das Staatsziel soll mehr als ein Symbol sein. Es soll die Verpflichtung deutlich machen, dass Kultur systemrelevant ist, dass sie ein Grundnahrungsmittel des Menschen ist. Kultur als Staatsziel würde die außerordentliche Bedeutung der Kultur für unsere Gesellschaft und unsere Demokratie noch einmal deutlich hervorheben.
Welchen Kulturbegriff legen Sie da an?
Roth: Für mich zeichnet sich Kultur durch Vielfalt aus. Das steht auch explizit so im Koalitionsvertrag. Da soll man jetzt aber bitte schön nicht mit Leitkultur kommen, was immer das sein mag.
Eine Frage haben wir noch: Was verstehen Sie unter Diversität? Ist Ihnen da die Besetzung von Leitungspositionen wichtig? Wie weit würden Sie gehen?
Roth: Neben dem Klimaschutz ist für mich die gesellschaftspolitische Dimension das wichtigste am Koalitionsvertrag. Ich erlebe das wie einen Aufbruch in die Wirklichkeit, in unsere vielfältige, bunte Gesellschaft. Diversität bedeutet die Teilhabe von Menschen aller Hintergründe an der Gesellschaft. Wichtig ist mir dabei zum Beispiel, die schlechtere Bezahlung von Frauen im Kulturbereich zu beenden. Zudem sollen Jurys und Gremien bei Kultureinrichtungen des Bundes noch stärker nach diversen Gesichtspunkten ausgesucht werden. Vorgaben für künstlerische Praxis möchte ich aber nicht machen.
Wie muss man sich vorstellen, wie Sie sich in Ihre neue Aufgabe einarbeiten? Wie eignen Sie sich das Wissen an?
Roth: Eins nach dem anderen. Die Schlafzeiten noch weiter zu reduzieren geht jedenfalls nicht. Zu Weihnachten muss ich erst einmal runterkommen. Das haben wir in der Regierung bei aller Euphorie bitter nötig, da wir seit Monaten ohne die geringste Unterbrechung arbeiten. Ich werde in den nächsten Wochen intensiv lesen, aber ich werde auch viel unterwegs sein, um unser vielfältiges Kulturleben noch besser kennenzulernen.