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Interview: Cassie Thornton: "Wir verdrängen, wie schlimm es zurzeit steht"

Interview

Cassie Thornton: "Wir verdrängen, wie schlimm es zurzeit steht"

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    Cassie Thornton
    Cassie Thornton Foto: Cassie Thornton

    Was bedeutet Hoffnung für Sie?

    Cassie Thornton: Vielleicht klingt das seltsam, aber ich habe das Wort erst mal im Wörterbuch nachgeschlagen und gemerkt, dass ich das Wort gar nicht so oft benutze. Eines meiner Lieblingsmusikalben aus meiner Studienzeit ist „I Could Live in Hope“ („Ich könnte in der Hoffnung leben“) der Band „Low“. Aber selbst damals, in den frühen 2000ern, konnte ich nicht in der Hoffnung leben. Wem hilft es denn, zu hoffen?

    Vielleicht hilft Hoffen nicht?

    Thornton: Als ich diese Wörterbuchdefinitionen gelesen habe, fiel mir auf, dass Hoffnung haben bedeutet, Vertrauen oder Zuversicht darin zu haben, dass alles gut wird. Ich habe auch die Gegenbegriffe der Hoffnung nachgesehen: Verzweiflung und Hoffnungslosigkeit. Beide definieren sich durch das Fehlen von Hoffnung. Also sollen wir dazu verleitet werden, zu denken, dass wir verzweifelt oder hoffnungslos werden, wenn wir kein Vertrauen oder keine Zuversicht haben. Aber ich glaube, es ist komplizierter. Wie die Schriftstellerin Ursula K. LeGuin sagt: „Das Einzige, was das Leben möglich macht, ist permanente, unerträgliche Unsicherheit: Nicht zu wissen, was als Nächstes kommt.“

    Sehen Sie Hoffnung als Falle?

    Thornton: Offen gesagt bin ich hoffnungslos, aber ich wünsche mir, dass ich bereitstehe und nützlich sein kann, wenn das Unbekannte auftaucht. Ich glaube, wenn man die Zuversicht und das Vertrauen hat, dass alles schon gut ausgeht, während gleichzeitig die meisten Menschen auf der Welt, die meisten Tiere und Pflanzen dem Tod näher als dem Leben sind, dann verdrängt man, wie schlimm es tatsächlich zurzeit steht. Etwas an der Verkündung dieser abstrakten Form von Hoffnung ist eine billige moralische Geste. Es ist die Performance von Sorge um unsere kollektive Zukunft, aber verbunden mit der Unfähigkeit oder dem Unwillen, tatsächlich etwas zu tun, das die eigene Bequemlichkeit gefährdet.

    Worin lag das Potenzial der Hoffnung einmal?

    Thornton: Wenn man von Hoffnung spricht, bedeutet das auf eine gewisse Weise, sich vom Netz des Lebens zu trennen. Jason W. Moore erfasst in seinem Buch „Kapitalismus im Lebensnetz“ sehr deutlich, dass wir Menschen eine Spezies sind, die unsere Umgebung erzeugen und von unserer Umgebung erzeugt werden – und wie selbst der Kapitalismus von all dem Leben abhängt, das er bedroht oder tötet. Wenn man aber sein Leben und seine Freiheit in der eines anderen Menschen sieht und spürt, versteht man diese Verbundenheit. Man kann nicht in Hoffnung leben, wenn andere Menschen und andere Lebewesen um uns herum sterben. Man kann nicht in Hoffnung leben, wenn man in einer enorm ungleichen Welt lebt. Man kann nicht in Hoffnung leben, wenn eine lecke Pipeline in dem Gewässer installiert wird, aus dem man trinkt.

    Das Unbekannte ist diese Einsicht?

    Thornton: Nun, es gibt halt Magie. In ihrem Buch „We Are ‚Nature‘ Defending Itself“ erzählen die radikalen Künstler-Aktivistinnen Isabelle Fremeaux und Jay Jordan, wie sie sich vom Narzissmus und Doppelsprech der Kunstwelt abgewandt haben, um einer kraftvollen Graswurzelbewegung zur Verteidigung des Bodens im ländlichen Frankreich beizutreten. Ihr Buch dokumentiert, wie Menschen aus sehr verschiedenen Hintergründen miteinander und mit dem Boden und den Bäumen leben und kämpfen können, sogar bis zu dem Punkt, dass sie der geballten Macht des französischen Staates trotzen – im Widerspruch zu den Wünschen des Kapitalismus. Ich liebe ihren Bericht darüber, aktiv mit Begehren, Willen und Wünschen zu arbeiten. Für mich ist das eine Waffe gegen die Enttäuschungen der Hoffnung.

    Was ist das Verhältnis zwischen Hoffnung und Wünschen?

    Thornton: Etwas daran, wie wir den Begriff „hoffen“ verwenden, als Verb, verweist aufs Aufgeben. Wenn ich jemandem sage „ich hoffe, die Dinge bessern sich“, sage ich, dass es schön wäre, wenn sich die Situation dieser Person verbessern würde. Aber ich werde da keine Energie meinerseits reinstecken. Wenn ich auf der Couch sitze und sage: „Ich hoffe, dass COP26 zu einem signifikanten Wandel in der Klimapolitik führt“, ist das eine wehmütige, schicksalsergebene Aussage, die impliziert, dass ich keine Macht habe und keinen Plan, das Ergebnis zu beeinflussen. Wenn der CEO einer toxischen und global einflussreichen Firma nicht aufhört, von der Hoffnung als Abstraktion zu reden, oder wenn er uns von seinen Hoffnungen fürs Klima erzählt, ist es sogar schlimmer: Das ist ein zynischer, emotional manipulativer Zug, weil er die Macht verschleiert, die er hat.

    Sie verwenden den Begriff „wünschen“ auch in „The Hologram“, dem feministischen post-kapitalistischen Gesundheitssystem, das sie während der Pandemie initiiert haben.

    Thornton: Wünschen ist hier Teil des Prozesses von wechselseitiger Fürsorge. Am Ende einer Session, nachdem wir jemanden über all die komplexen Aspekte ihres Lebens befragt haben, wünschen wir uns etwas für sie. Ich habe aus dieser Arbeit gelernt, dass ein Wunsch Macht hat, weil er das Gegenteil von Hoffnung ist. Ein Wunsch ist ein Fluch oder ein Segen, etwas, das davor unmöglich gewesen war, von einer Person, die bereit ist, dem Universum etwas abzuverlangen, das besser ist als das, was bisher angeboten wurde. Wenn ich sage, ich wünsche mir, dass Milliardäre sich ins All schießen, meine ich das so. Als ich mir gewünscht habe, dass das Eigentum eines gierigen Berliner Vermieters enteignet und umverteilt wird, schien das noch unmöglich.

    Was wünschen Sie sich sonst noch?

    Thornton: Es gibt eine einfache Grundlage für meine Kunst und meinen Aktivismus: Ich wünschte, ich – und wir kollektiv – könnten eine Brücke bauen, um die beiden Seiten dieses Grabens zu überwinden. Der Graben zwischen auf der einen Seite, woran wir glauben und was wir wertschätzen, und auf der anderen Seite, was wir tatsächlich mit unserer Zeit anstellen. Wir stecken alle in diesem Graben fest. Da kommen wir nicht individuell raus, wir müssen gemeinsam einen Weg da rausfinden.

    Was bedeutet das konkret?

    Thornton: Ich glaube nicht an Eigentum oder dass der Boden jemals als persönlichen Besitz behandelt werden sollte. Und doch wird mir gesagt, dass ich ein Haus besitze und das Land, das sich darunter befindet. Unser ganzes Leben verbringen wir mit einem Haufen Kompromisse, auf die wir nicht stolz sind, aber um die wir auch nicht herumkommen. Ich glaube nicht, dass jemand das allein verändern kann. Also will ich Teil eines Netzwerks oder einer Gruppe von Menschen sein, die sich aus den Gewohnheiten löst, in die wir gezwungen wurden. Ich wünsche mir, mich wie ein nützlicher Teil einer gesunden Gesellschaft fühlen zu können, die niemanden vernachlässigt. In dem ich mir das für mich selbst wünsche, wünsche ich mir das auch für Sie. Ich wünsche mir, mich mit vielen anderen Menschen und anderen Praktiken verbunden zu fühlen.

    Stand diese Suche nach Gemeinschaft und Mitgefühl am Anfang von „The Hologram“?

    Thornton: Ich wünsche mir, die Verbreitung von „The Hologram“ zu sehen, das als Werkzeug eingesetzt wird, um Menschen zu unterstützen, die aufhören wollen, in Kompromissen zu leben – Kompromisse, die die Welt für die meisten Menschen schlechter machen. Ich glaube, dass „The Hologram“ die Kapazität hat, Menschen zur Rechenschaft zu bringen, sich selbst und ihren Freunden gegenüber – sodass sie anfangen können, eine Brücke zu bauen, zwischen dem, woran sie glauben, und wie sie leben. Es geht nicht nur darum, ein System zu erschaffen, dass uns daran erinnert, ethisch zu handeln. Es geht auch darum, materielle Beziehungen aufzubauen, sodass wir aus dem System austreten und uns weigern können, mitschuldig zu werden.

    Die Interview-Serie über eine bessere Zukunft entsteht durch die Zusammenarbeit mit „The New Institute“. The New Institute ist eine Neugründung in Hamburg, deren Ziel die Gestaltung gesellschaftlichen Wandels ist. Seit Herbst 2021 arbeiten hier bis zu 35 Fellows aus Wissenschaft, Aktivismus, Kunst, Wirtschaft, Politik und Medien gemeinsam leben und an konkreten Lösungen für die drängenden Probleme in den Bereichen von Ökologie, Ökonomie und Demokratie. Gründungsdirektor ist Wilhelm Krull. The New Institute ist eine Initiative des Hamburger Unternehmers und Philanthropen Erck Rickmers. Mehr Informationen unter www.thenew.institute

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