Frau Clemm, die Berliner Staatsanwaltschaft hat alle Ermittlungen gegen den Rammstein-Sänger Till Lindemann eingestellt. Überrascht Sie das?
CHRISTINA CLEMM: Nein, das war zu erwarten. Die Beweise reichten offenbar nicht aus, um einen hinreichenden Tatverdacht zu belegen. Aber anders als nun oft behauptet, ist damit nicht bewiesen, dass an den Vorwürfen nichts dran ist oder dass die Frauen gelogen haben.
Wie passt das zusammen?
CLEMM: Einerseits handelte es sich wohl nur um Erzählungen aus zweiter oder dritter Hand, die direkten Betroffenen haben nicht ausgesagt. Und das, was man in der Öffentlichkeit hört, ist teils wohl auch eher unter den Begriff des Machtmissbrauchs zu fassen als unter das eng gefasste Sexualstrafrecht. Ohne ausreichende Beweise wird ein Verfahren eingestellt, so funktioniert ein Rechtsstaat, denn es hat die Unschuldsvermutung zu gelten. Aber man darf sich schon fragen, warum Betroffene anonym bleiben wollten, sich spät äußerten oder sich eher an die Presse statt an die Ermittlungsbehörden wandten.
Woran liegt das?
CLEMM: Frauen, die öffentlich über sexualisierte Gewalt sprechen, werden mit vielen Vorurteilen konfrontiert. Ihnen wird unterstellt, sie würden lügen oder nach Aufmerksamkeit gieren. Ihnen schlagen Hass und Häme entgegen. Bei prominenten Fällen werden Betroffene mit Unterlassungserklärungen oder Strafanzeigen überhäuft. Das alles schüchtert ein und trägt nicht dazu dabei, dass Betroffene über mögliche Übergriffe sprechen.
Demgegenüber steht die Sorge, Männer würden leicht zu Unrecht beschuldigt. Ist sie begründet?
CLEMM: Nein, statistisch gesehen gibt es im Bereich der sexualisierten Gewalt nicht mehr Verurteilungen wegen falscher Verdächtigung als in anderen Deliktfeldern. Es ist eine Katastrophe, wenn jemand falsch beschuldigt wird, aber solche Fälle sind selten und stehen in keinem Verhältnis zu den sexualisierten Übergriffen, die Frauen tagtäglich erleben.
War die Berichterstattung im Fall Lindemann gerechtfertigt?
CLEMM: Es ist wichtig, dass Medien über solche Vorwürfe berichten und Betroffene gehört werden. Dass sich die Debatte häufig dahingehend verschiebt, ob und wie berichtet wird, lenkt vom eigentlichen Problem ab. Denn im Kern geht es nicht um einzelne prominente Fälle, sondern um ein gesamtgesellschaftliches Problem.
Inwiefern?
CLEMM: Oft wird so getan, als herrsche in unserer Gesellschaft Gleichberechtigung, aber wir sind weit davon entfernt, denn sexualisierte Gewalt ist allgegenwärtig und betrifft zu 90 Prozent Frauen. Dass die Hälfte der Bevölkerung mit Warnungen im Kopf aufwächst und nachts nicht sicher nach Hause laufen kann, offenbart die Ungleichberechtigung schon recht deutlich.
Wo beginnt ein sexualisierter Übergriff?
CLEMM: Juristisch zählt dazu jede sexuelle Handlung, die gegen den Willen einer Person geschieht. Oft geht es um die Frage der Einvernehmlichkeit und darum, was als sexuelle Handlung gewertet wird. Über eine Berührung am Oberschenkel lässt sich streiten, ein Kuss auf den Mund ist eindeutig.
Der spanische Fußballverbands-Chef Luis Rubiales hat die Nationalspielerin Jennifer Hermoso bei der Siegerehrung ungefragt auf den Mund geküsst. Ein klarer Fall von sexualisierter Gewalt?
CLEMM: Eindeutig. Bedrückend ist, dass Rubiales offenbar dachte, er könne sich das vor den Augen der Weltöffentlichkeit herausnehmen und dass jetzt tatsächlich darüber diskutiert wird, ob es sexualisierte Gewalt war und ob er sich steuern konnte. Man stelle sich vor, das wäre in der Kabine passiert. Wahrscheinlich hätte niemand Frau Hermoso geglaubt, jedenfalls wäre sie mundtot gemacht worden. Gut ist, dass sie sich gewehrt hat und sich viele mit ihr solidarisieren. Das wäre vor zehn Jahren anders gewesen.
Hat die Me-Too-Debatte aus Ihrer Sicht etwas verändert?
CLEMM: Frauen haben viel erreicht und das Bewusstsein für sexualisierte Gewalt wächst. Aber es gibt auch einen Rückschlag, eine Form von renitenter Männlichkeit, die so tut, als gebe es all die Probleme nicht mehr. Dabei sind die Zahlen von Gewalttaten und Femiziden seit Jahren unverändert hoch. Jeden dritten Tag wird eine Frau in Deutschland von ihrem (Ex-)Partner getötet. Jede Frau kennt in ihrem Nahraum eine Frau, die Gewalt erfahren hat. Nahezu jede Frau hat schon mal einen übergriffigen Spruch gehört oder einen einfachen sexuellen Übergriff erlebt. Aber anscheinend kennt niemand die Täter.
Warum ändert sich daran nichts?
CLEMM: Geschlechtsbezogene Gewalt wird immer noch individualisiert und die dahinterliegenden Strukturen werden außer Acht gelassen. Es ist normalisiert, dass Frauen mit Machtmissbrauch oder sexuellen Übergriffen rechnen müssen, sich in Acht nehmen müssen. Aber man muss sich doch fragen, in welcher Gesellschaft wir leben, die eine solche Haltung erlaubt. Frauenhass ist tief verankert im patriarchalen System, es geht um Macht und Vorherrschaft. Misogyne Ressentiments werden früh anerzogen und stabilisieren männliche Machtstrukturen. Die Gewalt gegen Frauen ist ein Symptom. Sie kann nur beendet werden, wenn die Ursachen bekämpft werden.
Müssen wir auch mehr über Männlichkeit sprechen?
CLEMM: Es ist bezeichnend, dass sich überwiegend Frauen mit sexualisierter Gewalt auseinandersetzen, dabei ist es vor allem ein Männerproblem, denn sie müssen mit der Gewalt aufhören. Ein verunsicherter Mann ist ein guter Anfang. Besser, man fragt einmal zu oft nach, als übergriffig zu werden. Ich halte die Argumentation für absurd, dass dadurch Spontanität und freie Sexualität verhindert würden. Das Gegenteil ist der Fall. Um etwas zu verändern, müssen Männer Privilegien hinterfragen und aufgeben, sich aktiv gegen Frauenhass einsetzen, sich mit Betroffenen solidarisieren und mit anderen Männern über Gewalt sprechen. Es reicht nicht, nicht gewalttätig zu sein.
Sie arbeiten jeden Tag mit Frauen zusammen, die schwere sexuelle Gewalt erfahren haben. Muss sich auch juristisch etwas ändern?
CLEMM: Meine größte berufliche Sorge ist, dass meine Mandantinnen nicht überleben. In erster Linie müssen wir verhindern, dass Frauen umgebracht oder schwerst misshandelt werden. Mehr Beratungsstellen, Frauenhäuser und Therapieplätze sind ein Anfang. Es müssen mehr finanzielle und personelle Ressourcen geschaffen werden, um in Gefahrensituationen näher an den Beschuldigten zu sein. Die Verfahren müssen schneller gehen, denn keiner Frau ist geholfen, wenn der gewalttätige Partner zwei Jahre nach der Tat zu einer Geldstrafe verurteilt wird. Betroffene brauchen Schutz, eine Anerkennung des ihnen widerfahrenen Unrechts und konkrete Lösungen, wenn gemeinsame Kinder im Spiel sind. All das wird nicht ausreichend berücksichtigt, aber Änderungen im Strafrecht werden die Gewalt nicht beenden. Denn problematisch ist neben der lückenhaften Strafverfolgung vor allem die niederschmetternde Gleichgültigkeit der Gesellschaft.
Was würden Sie sich wünschen?
CLEMM: Einen ehrlichen Diskurs über patriarchale Gewaltstrukturen und darüber, wie wir als Gesellschaft zusammenleben wollen. Denn ich bin trotz oder gerade wegen meiner Arbeit überzeugt, dass wir es besser könnten.
Zur Person
Christina Clemm ist Fachanwältin für Strafrecht und Familienrecht in Berlin und war Mitglied der Expertenkommission zur Reform des Sexualstrafrechts des Justizministeriums. Seit fast 30 Jahren vertritt sie Menschen, die von geschlechtsspezifischer, sexualisierter, rassistischer, lgbtiq-feindlicher und rechtsextrem motivierter Gewalt betroffen sind. Jetzt ist ihr neues Buch „Gegen Frauenhass“ im Hanser Verlag erschienen.