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Ingolstadt würdigt Marieluise Fleißer

Theater

Gedenken an Marieluise Fleißer: Die Nestbeschmutzerin im Ingolstädter Fegefeuer

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    Marieluise Fleißer um das Jahr 1970 in ihrer Ingolstädter Wohnung.
    Marieluise Fleißer um das Jahr 1970 in ihrer Ingolstädter Wohnung. Foto: Zentrum Stadtgeschichte Ingolstadt/Heinz Haßfurter

    Sie wird gerne als eine Schriftstellerin portraitiert, aus der ohne Brecht und Feuchtwanger nichts geworden wäre. Der Literaturkritiker Alfred Kerr unterstellt nach der Uraufführung von "Fegefeuer in Ingolstadt" gar, es gäbe sie gar nicht, sie sei nur ein Pseudonym Brechts. Und Lion Feuchtwanger erklärt ihr, dass das, was sie mache, zwar Kunst sei, aber „sehr schwer zugänglich und ohne Nachfrage, also so gut wie ohne Marktwert.“ Ihre Positionen in privaten und beruflichen Beziehungen sowie im Literaturbetrieb muss sie sich hart erkämpfen, und ihre schriftstellerische Karriere ist weniger ein glanzvoller Aufstieg denn ein ständiges Stolpern und Scheitern. In ihrer Prosa und ihren Dramen inszeniert die Ingolstädterin Konstellationen von Macht und Ohnmacht, von Deformation und Verletzung, von Normen und Tabus. Sie selbst sagt, sie schreibe für alle Aufgeschlossenen, die bereit seien, den Druck und die Ungerechtigkeit im Alltäglichen zu erkennen. Und, gleich einer Replik auf Feuchtwanger: „Es ist möglich, dass die Leser wie die Kritiker auf eine gewisse Sprachbarriere stoßen, die ihnen den Zugang schwer macht. Diese Sprachbarriere ist aber untrennbar mit mir verbunden.“

    Marieluise Fleißer debütiert 1923 mit einer Erzählung mitten im Spektrum von Sexualität, Gewalt und Selbstbehauptung. Zu diesem Zeitpunkt studiert die 21-jährige Tochter eines katholischen Eisenwarenhändlers in München Germanistik und Theaterwissenschaften. Eine mutige Entscheidung: Frauen studieren zu dieser Zeit, wenn überhaupt, Medizin, um selbstständig Geld verdienen zu können. Fleißer selbst kämpft, wie rund ein Viertel der sieht sie in München die Uraufführung von Brechts "Trommeln in der Nacht". An diesem Abend habe sie gewusst, „von diesem Dichter komme ich nicht los, der hat was für mich, der gräbt mich um, an dem komme ich im Leben nicht vorbei.“ 

    Bertholt Brecht ist angetan von Fleißers "Fegefeuer"

    Zunächst lernt sie aber Lion Feuchtwanger kennen. Er rät der Studentin „Lu“, ihren Namen, Luise Marie, umzustellen zu Marieluise. Ihre Texte überzeugen ihn nicht, woraufhin Fleißer diese vollständig vernichtet. Feuchtwanger sagt ihr, sie müsse genauer und realistischer schreiben. Sie liefert – und schreibt erste Erzählungen, die sie in Zeitschriften veröffentlichen kann. 1926 folgt ihr Drama "Fegefeuer in Ingolstadt". Feuchtwanger reicht es an Brecht weiter. Der will Fleißer nun kennenlernen – und setzt durch, dass ihr Stück in Berlin uraufgeführt wird. Fleißer erhält einen Verlagsvertrag und begeisterte Kritiken. Kurt Pinthus schreibt, die sprachliche Darstellung Fleißers, die „da plötzlich, fast ohne Vorbild und Tradition“ auftrete, sei begnadet und „nicht nur eigenartig, sondern einzigartig, vielleicht sogar erstmalig.“ 

    Auch ihre "Pioniere in Ingolstadt" werden 1929 in Berlin zum Erfolg, und sie polarisieren, vor allem in ihrer Heimatstadt, in der sie längst als Nestbeschmutzerin gilt. Der Vater schreibt ihr, sein Laden werde gemieden, das Geschäft laufe schlecht. Hinzu kommen Beziehungskrisen – die Trennung von Brecht, der ihre Zuneigung immer wieder entfacht und enttäuscht, und von ihrem Verlobten in Ingolstadt. In Berlin geht sie eine neue Beziehung ein, die sie nach kurzer Zeit finanziell, emotional und auch literarisch ruiniert und 1932 in einen Selbstmordversuch treibt. Sie verfasst in Berlin zwei Romane, doch die Erkenntnis, dass sie vom Schreiben nicht leben kann, wiegt schwer. So kehrt sie nach Ingolstadt zurück – und dort in die Arme des Ex-Verlobten, den sie in ihrer finanziellen Not heiratet: „Ein schweres Risiko wird das. Wäre ich frei, ich ließe mich nicht darauf ein. Ich rette nur noch das Leben.“ Mit Wahnvorstellungen weist sie sich im dritten Ehejahr für Monate in eine Psychiatrie ein.

    Ihr Schreiben opfert Fleißer der Arbeit im Laden

    Mit der Machtergreifung der Nationalsozialisten 1933 kann sie nicht mehr publizieren. Ihre Werke stehen nun auf der „Liste des schädlichen und unerwünschten Schrifttums“. 1943 wird sie zum Kriegseinsatz als Hilfsarbeiterin mit 43 Stunden Arbeit pro Woche verpflichtet. Sie schreibt – kontinuierlich, heimlich, wenig – und leidet. Bis zum Tod ihres Mannes 1958 trägt sie sich mit Trennungsgedanken und opfert ihr Schreiben weitgehend der Arbeit in dessen Tabakwarenladen, der nach dem Krieg in Schulden verwickelt ist. 

    In den 1950er-Jahren gelingt es ihr, die Verbindungen und das Schreiben langsam neu zu beleben. Sie erhält erstmals Literaturpreise, sogar einen aus der Heimatstadt. Eine zaghafte Wiederentdeckung Fleißers setzt ein. Ihre Dramen erleben in den 1960er-Jahren Neuinszenierungen, Franz Xaver Kroetz und Rainer Werner Fassbinder gehören zu ihren Bewunderern, sie korrespondiert mit Erich Kästner und Arno Schmidt. 1963 erscheint ihre letzte gewichtige, der Darstellung Brechts gewidmete Erzählung "Avantgarde". Als Suhrkamp sich dazu entscheidet, anlässlich ihres 70. Geburtstag eine Gesamtausgabe ihres Werkes herauszubringen, arbeitet Fleißer intensiv an der Überarbeitung, schreibt viele frühe Texte um, ändert Titel. 1972 erscheint erstmals ihr gesammeltes Werk. Gesundheitlich mehr und mehr angeschlagen, stirbt Marieluise Fleißer am 2. Februar 1974, mitten in der Planung einer Trilogie Ingolstädter Stücke. 

    Breites Programm in Ingolstadt zum Fleißer-Gedenkjahr

    „Die bedeutendste Autorin des 20. Jahrhunderts ist Marieluise Fleißer, die hat keinen Nobelpreis bekommen, da dürfte ich ihn ja gar nicht annehmen,“ befand Elfriede Jelinek. Wer sich Fleißers Werk annähern möchte, dem seien ihre frühen Erzählungen empfohlen, die literarisch hier an Irmgard Keun, dort an Herta Müller erinnern. Die Stadt Ingolstadt hat zudem ein breites Veranstaltungsprogramm zum Fleißer-Gedenkjahr 2024 aufgelegt. Das Fleißer-Haus in der Ingolstädter Kupferstraße, ihrem Elternhaus, widmet sich in seiner aktuellen Ausstellung "Schlaglichter – Schlagschatten" dem Leben der Autorin in Dekaden, ausgehend von ihrem Debüt, und ist, nicht nur im Gedenkjahr, einen Ausflug wert.

    Christina Rossi arbeitet als Literaturwissenschaftlerin in Dortmund. Sie lebt in Augsburg und forscht schwerpunktmäßig zur Literatur des 20./21. Jahrhunderts. Für die Stadt Ingolstadt kuratiert sie das Fleißer-Gedenkjahr 2024.

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