Im Januar hat Venedig die wenigsten Besucher, und das Licht ist am schönsten. Nur wenige internationale Gäste sind in dieser Zeit in der Lagunenstadt. Die Piazza San Marco ist eine Baustelle, das berühmte Caffè Florian wird renoviert. Die mobilen Stege, um das Hochwasser zu überbrücken, sind fast täglich im Einsatz. Viele Geschäfte und Lokale bleiben geschlossen, bis der Karneval beginnt. Der Januar ist auch der Monat der Erinnerung in der "Serenissima", wie Venedigs Beiname lautet, und im ganzen Land.
Überall in der Stadt weisen gelbe Plakate auf die Veranstaltungen rund um den "Giorno della Memoria", den Internationalen Tag des Gedenkens an die Opfer des Holocaust am 27. Januar hin, den Jahrestag der Befreiung des Konzentrationslagers Auschwitz-Birkenau. Die Lagunenstadt ist in vielerlei Hinsicht ein besonderer Ort. Hier befindet sich das älteste Getto der Welt, in dem die jüdischen Bürgerinnen und Bürger der Republik Venedig bis zum Ende des 18. Jahrhunderts mit vielen Restriktionen belegt auf engem Raum, umgeben von Kanälen, leben mussten. Nachts wurden die Tore geschlossen. Erst Napoleon öffnete das Getto im Jahr 1797. Vor 1945 lebten in Venedig rund 1200 Juden, 300 wurden während des Nazifaschismus deportiert und ermordet. Heute zählt die jüdische Gemeinde wieder um die 500 Mitglieder.
Carabinieri wollten die Namen jüdischer Bürger nicht verraten
Über sechzig Veranstaltungen in der Stadt und auf dem Festland widmen sich dem Gedenken: Filmvorführungen, Vorträge, Ausstellungen, Konzerte und Buchpräsentationen. Ein fester Bestandteil ist seit zehn Jahren die Verlegung der Stolpersteine des deutschen Künstlers Gunter Demnig vor den Wohnorten der Bürger, die vertrieben, deportiert und ermordet wurden. Die von der Stadt geförderte Initiative wird in Zusammenarbeit mit der italienischen Niederlassung des Europarats in Venedig, dem Deutschen Studienzentrum, der Jüdischen Gemeinde und dem Partisanenverband Iveser organisiert. Die Stolpersteine erinnern nicht nur an die jüdischen Opfer. Unter den ersten Stolpersteinen in Italien, die 2010 in Rom verlegt wurden, befanden sich auch Steine für italienische Carabinieri, die sich geweigert hatten, die Namen der jüdischen Bewohnerinnen und Bewohner zu verraten. Sie seien alle in deutschen Lagern gestorben, erinnert sich der Künstler an einem kalten klaren Tag Mitte Januar in Venedig.
Auf dem Campo de Ghetto Nuovo, einem großen Platz mit Olivenbäumen und einem Brunnen im Stadtteil Cannaregio, wartet eine Schülergruppe in der milchigen Mittagssonne auf ihren Einsatz bei der Stolpersteinverlegung. Doch die Delegation des Percorso della Memoria, des „Rundgangs der Erinnerung“, die von Journalisten, Politikern, Schülern, Verbänden und den Initiatoren begleitet wird, ist im Zeitverzug. Die beiden Polizisten auf dem Campo schauen zum wiederholten Male auf die Uhr. Seit dem 11. September 2001 ist die Polizei auch hier im Getto stationiert. Die Realität macht vor Venedig nicht halt, man muss sich nur umschauen. Auf einem Leintuch steht: "Never again for anyone. Ceasefire now" (Nie wieder für alle. Waffenstillstand jetzt). Und aus dem Fenster des gegenüberliegenden Hauses weht ein Banner mit der Aufschrift: Pace (Frieden).
"Ah, tedeschi!" – Deutsche!
Neben der Bronzeplastik "Der letzte Zug" des litauischen Bildhauers Arbit Blatas, an der Wand des ehemaligen jüdischen Altersheims, lehnt ein Kranz der deutschen Bundesregierung. Die schwarz-rot-goldene Schärpe flattert im Wind. Claudia Roth, die deutsche Kulturstaatsministerin, hat den Kranz kürzlich bei ihrem Besuch hier aufgestellt. Diese Geste und ihre Rede, in der sie das Erinnern beschwor, "ein Erinnern nicht, um sich in der Vergangenheit einzumauern, sondern ein Erinnern in die Zukunft, damit das Nie wieder ein tatsächliches Nie wieder ist. Nie wieder Antisemitismus. Nie wieder Ausgrenzung, Diskriminierung, Gewalt und Mord an Menschen, weil sie Juden oder Jüdinnen sind" – diese Worte Roths sorgten für emotionale Momente unter den Mitgliedern der jüdischen Gemeinde. Ihr Präsident, der Literaturkritiker Dario Calimani, zeigte sich bewegt, denn noch nie zuvor, erklärte er, habe sich hier ein deutsches Regierungsmitglied in offizieller Funktion gezeigt. Der Kranz sorgt auch bei den Passanten für Aufsehen. Viele bleiben kurz stehen und sehen nach, von wem er stammt. "Ah, tedeschi! Deutsch!", erklärt eine ältere Italienerin einer anderen.
Die bisher 185 Stolpersteine in der Stadt und auf dem Festland sind weniger auffällig. Stolpern solle man auch nicht im wortwörtlichen Sinne, sondern innerlich, erklärt Gunter Deming. Der 76-jährige Künstler, der fast alle der insgesamt über 100.000 Steine in 31 europäischen Ländern selbst verlegt hat, ist in diesem Januar in ganz Italien unterwegs ist. „Hier wohnte Paola Sonino, geboren 1915, verhaftet am 29.1.1944, deportiert und ermordet in Auschwitz“, steht auf dem Stein, den er an der Fondamenta Trapolin ins Pflaster zementiert.
26 Steine sind es diesmal für Gunter Demnig
Ein Mensch ist vergessen, wenn sein Name vergessen ist, sagte dem Künstler ein Rabbi in Köln, wo er 1990 den ersten Stolperstein vor dem Kölner Rathaus in Erinnerung an die Deportation und Ermordung von 1000 Sinti und Roma in den Boden setzte. Die Stolpersteine fügen den Orten ein Stück Geschichte hinzu, das nicht der Vergessenheit anheimfallen darf. Unter den 26 Steinen, die in diesem Jahr in Venedig und auf dem Festland verlegt wurden, ist auch der für den Marineunteroffizier Renzo Sorato aus Cannaregio, der den Befehl verweigerte und am 25. April 1945 im Alter von 24 Jahren in einem überladenen Güterwagon starb.
Das Gedenken in Venedig ist lebendig, das zeigt die rege Anteilnahme der Schülerinnen und Schüler, die nach anderthalb Stunden zu ihrem Einsatz kommen. Während der Gedenkminute wird die Stille kurz durchbrochen. Eine ältere Dame streckt den Kopf aus dem Fenster und ruft: "Ich kann nicht runterkommen, aber ich bin bei euch! Macht weiter!" Das gibt es wahrscheinlich nur in Venedig.