Es gibt da diese berühmte Opernszene vom Einzug der Gäste in die Wartburg: Richie Wagner lässt in seinem "Tannhäuser" einen Schwung Hochadeliger des Mittelalters die edle Halle begrüßen – anlässlich eines Sängerwettstreits. Das war sozusagen gestern, hoch über Eisenach. Heute, hoch über Heidenheim, begrüßt eine bunte Bürgerschaft anlässlich ihrer Opernfestspiele die Rittersaal-Ruine von Burg/Schloss Hellenstein. Ein bis zu zwei Meter dickes Mauerwerk, gen Himmel offen, im Burgturm die Lichtregie bergend: beeindruckend.
Die Bürgerschaft ihrerseits wird begrüßt vom künstlerischen Direktor und Dirigenten Marcus Bosch. Er steht tatsächlich unmittelbar vor Beginn der diesjährigen "Don-Carlo-Premiere" neben dem roten Teppich, der hineinführt in den Rittersaal. Lächelt einladend, schüttelt hier die Hand, nickt da aufmunternd. Er freut sich über seine defilierenden Gäste, diese sich über seine Honneurs. Die württembergische 50.000-Einwohner-Kreisstadt an der Grenze zu Bayern, 100 Autobahn-Kilometer von Augsburg entfernt und 150 von Würzburg, steht zusammen. Sie kann was, sie leistet sich was; der Lokalpatriotismus trägt reiche Frucht. Erste Fußball-Bundesliga seit jüngstem, Opernfestspiele seit 1969, diese allerdings noch nicht vollkommen verankert im Bewusstsein derer, die es auch zum Tannhäuser nach Bayreuth zieht, gen Bregenz und Salzburg. Wie viele große Kreisstädte in Deutschland gibt es, die Opernfestspiele ihr Eigen nennen können? Ja, überhaupt wollen?
Da geht was bei den Heidenheimer Opernfestspielen
So was geht, zumal auf höherem Niveau, nur mit vereinten Kräften. Der rastlose Marcus Bosch, einst Generalmusikdirektor von Aachen und Nürnberg, ist geborener Heidenheimer; der städtische Kulturamtsleiter spielt auch Flöte im zweiten Festivalorchester, in der namhaften "Cappella Aquileia"; der Leiter des Opernfestspiel-Betriebsbüros führt Regie auch auf der zweiten (!) Heidenheimer Freilichtbühne, dem Naturtheater. Eine Million Euro Zuschuss spendiert die Kommune, wenigstens 800.000 Euro die großen Firmen direkt vor Ort, darunter das Verbandstoffwerk Hartmann und der Antriebstechnik-Konzern Voith. Kommt noch Zeiss hinzu, sodass mit den Eintrittseinnahmen ein Etat von knapp drei Millionen Euro zusammenkommt.
Da geht was, sogar noch eine Winterproduktion und (Meister-)Konzerte zusätzlich – selbst ohne die Einrichtung ständiger Werkstätten, die ja ein reguläres festes Opernhaus vorzuhalten hat. Speziell für die Opernfestspiele Heidenheim, die sich knapp "OH" nennen – was ja einem "Oha!" ganz nahe kommt –, ist zudem, dass die jährliche Rittersaalproduktion mit doppeltem, kopiertem Bühnenbild an den Start geht, eines für draußen, eines bei Schlechtwetter für das Congress Centrum mit Tiefgarage. So kann kurzfristig, bis zwei Stunden vor Aufführungsbeginn, noch umdisponiert werden.
2023 also Verdis "Don Carlo" im Rittersaal (845 Plätze), nicht die einzige szenische Oper Verdis der Festspiele. Parallel noch wird die "Giovanna d'Arco" gegeben, eine seiner frühen, unbekannteren Opern, die Heidenheim seit 2016 vorstellt. Bosch also hat alle Hände voll zu tun: die Einstudierung zweier Opern (plus zweier Konzertprogramme) und dann binnen 24 Tagen zwölf Aufführungen. Ob das ehrgeizig oder schon zu viel sei? – geht eine Frage an ihn. Er bleibt gelassen: "Im Lichte einer Generalmusikdirektoren-Tätigkeit ist diese Dichte nicht ungewöhnlich." Festspiele seien nun mal intensiv – und er genieße es. Vielleicht geht die ganze Sache in dieser Ballung und auf diesem Niveau auch gar nicht ohne ihn: Als Vorsitzender der deutschen Generalmusikdirektoren-Konferenz hat er beste bundesrepublikanische Kontakte – und seine Ohren zum Engagement der Solisten praktisch überall.
Alles bleibt differenziert vernehmbar: Diese Opernfestspiele sind ehrgeizig
Das belegt dieser "Don Carlo": Die vokale Güte ist allemal der Güte kleinerer Staatstheater vergleichbar – und so manchem Stadttheater überlegen. Man kann noch einen Schritt weitergehen: Indem Bosch von den Stuttgarter Philharmonikern hohe Transparenz und Zurückhaltung bei orchestralen Eruptionen verlangt, bleibt alles – ohne jegliche elektrische Verstärkung! – differenziert vernehmbar und die Stimmen stets im Vordergrund. Da muss keiner sich ständig verausgaben, um den Graben zu übertönen. Mögen auch Pavel Kudinov als Philipp II. und Randall Jakobsh als Großinquisitor noch ein Mehr an autoritärer Durchschlagskraft vertragen, so betören Sung Kyu Park als Carlo, Ivan Thirion als Rodrigo, Leah Gordon als Elisabeth und vor allem Zlata Khershberg als Eboli.
Und Georg Schmiedleitners Inszenierung im Bühnenbild von Stefan Brandtmayr schafft insofern die Quadratur des Kreises, als sie unter einem zerbrochenen Peace-Zeichen geschickt vermittelt zwischen konventioneller Werktreue und moderater Neudeutung von Verdis so privater wie politischer Tragödie. Zeitlupen-Gänsemärsche des Chors und dessen etwas steife symmetrische Aufstellung hernach gehören ebenso dazu wie so mancher Verweis auf die Überzeitlichkeit des Stoffes, etwa die "Abu-Ghraib"-Behandlung politischer Häftlinge, etwa das Nebeneinander historischer und zeitgenössischer Kostüme (Halskrause versus silberbeschichteter Lederjacke), etwa die laufenden Bildschirme eines Überwachungsstaats. Gewünscht ist erkennbar mehr denn lediglich große Oper als Augen- und Ohrenschmaus.
So zeigt Heidenheims "Don Carlo", dass diese Opernfestspiele auch deutlich mehr sind als liebenswert und ehrgeizig. Wenn sich erst einmal die Nacht gesenkt hat über dem Rittersaal, dann kommt da auch noch eine geboten düstere Stimmung hinzu – und eine anschwellend dringliche, suggestive musikalische Wirkung.
Wieder am 14., 15., 21., 28. Juli. Die "Giovanna d'Arco" wird am 20. und 22. Juli gespielt.