Mehrfach hatten Modegurus ihr Ende prophezeit. Doch der Skinny Jeans konnte das nichts anhaben. Jahrelang dominierte sie den Look auf der Straße. Von Frauen und Männern getragen, von Müttern und Teenagern geliebt, von Fashionistas und Modemuffeln gefeiert, überwand sie Geschmacksgrenzen. Jeder trug sie, unabhängig von Alter, Geschlecht oder Statur. Sie war die unangefochtene Nummer eins unter den Jeans-Modellen. Bis jetzt.
Denn nun scheint bestätigt, was die Mächtigen der Mode seit Jahren krakeelen: Die Röhrenhose ist out. Amerikanische Marktforscher der NPD Group haben herausgefunden, dass 2021 in den USA erstmals seit einer gefühlten Ewigkeit mehr weite Modelle als Skinny Jeans verkauft wurden. Die Röhrenhose vom Denim-Thron gestoßen? Abgelöst von einem anderen Schnitt? Moment mal. Cut.
Fashion Victim: Australierin landete mit Röhrenhose im Krankenhaus
Das würde ja bedeuten … nie mehr ziehen und zerren, bis sich der Stoff um die Schenkel spannt … nie mehr Luft anhalten und Bauch einziehen, damit der Reißverschluss zugeht … nie mehr mit hochrotem Kopf in der Umkleide stehen und ernüchtert feststellen, dass das Spiegelbild eher einer inkarnierten Presswurst gleicht als einem selbst. Das wäre ja ein kleiner Befreiungsschlag gegen dieses Korsett am Bein, das nicht nur bei der Anprobe Schnappatmung verursacht. Denn auch das Abstreifen kann zur Tortur werden, wie eine 35-jährige Australierin schmerzlich erfahren musste. Sie wurde wortwörtlich zum Fashion Victim, als sie samt Röhrenhose im Krankenhaus landete. Offenbar waren ihr beim Putzen derartig die Beine angeschwollen, dass sie aus der Jeans herausgeschnitten werden musste. Danach geisterten Schreckensmeldungen über die gesundheitlichen Risiken der Hose durchs Netz – von Kribbeln im Bein über Nervenschäden bis hin zu Geschwüren und Muskelblutungen. Wirklich dran war nichts an den Hiobsbotschaften.
Skinny Jeans befeuerte den Schlankheitswahn
Mediziner hielten die von der Skinny Jeans befeuerte Ästhetik für weitaus bedenklicher. Denn der Schlankheitswahn steckte schon im Namen. Skinny, der Superlativ von slim. Nicht mehr dünn, sondern mager sollten die Trägerinnen und Träger sein. Model Kate Moss und ihr damaliger Rockstar-Freund Pete Doherty machten es vor, als sie Mitte der 2000er Jahre knochendürr und zugedröhnt über den roten Teppich stolzierten. Sie waren nicht die ersten Stars in Röhrenhose, aber mitverantwortlich für deren Boom. Denn spätestens Ende der 2000er Jahre war die Jeans im Mainstream angekommen.
Das Bad-Boy-Image, das Sexsymbole wie James Dean oder Marlon Brando ihr in den 1950er Jahren verliehen hatten, war da längst verloren. Auch Elvis Presley hatte noch mit engen Jeans provoziert und sie zum Sinnbild von Rock ‘n’ Roll und Rebellion werden lassen. Während die Hippies lieber in Schlaghosen über die Wiese tanzten, machten sich Punks in den 1980er Jahren die Skinny Jeans wieder zu eigen. Mit Sicherheitsnadeln und Nietengürtel versehen mutierte die Hose zum Kleidungsstück gegen das Establishment.
In Videos werden Skinny Jeans schon verbrannt und zerschnitten
Und jetzt? Soll ihr Ende besiegelt sein, nachdem sie fast zwanzig Jahre das Erscheinungsbild geprägt hat? Niemals. Die Röhrenhose hat sich über die Schnelllebigkeit der Modewelt längst hinweggesetzt. Sie ist nicht mehr Trend, sondern ein Klassiker im Kleiderschrank. Sie hat den Blick auf die Schuhe freigelegt und den Hype um bequeme Sneakers erst möglich gemacht. Bei Kälte in die Stiefel gesteckt hat sie ihren Trägerinnen und Trägern über Jahre hinweg warme Füße beschert und ihnen selbst zu übergroßen Flauschpullis Kontur verliehen. Die aktuellen Verkaufszahlen mögen belegen, was Teenager auf TikTok längst wussten. Sie hatten die Skinny Jeans schon 2021 für uncool erklärt und in Videos verbrannt oder zerschnitten – unter den bestürzten Augen vieler Millennials, die die enge Hose so selbstverständlich weitertragen wie ihre Unterwäsche. Es entbrannte ein regelrechter Streit darüber, ob die Skinny Jeans nun out oder immer noch angesagt ist. Von den Jüngeren wurde zurecht moniert, dass sie weder zur Bequemlichkeit noch zu einem positiven Körperbild beiträgt. Sie schlüpfen lieber in Baggy oder Bootcut für mehr Beinfreiheit.
Doch unter den 1,8 Milliarden Jeans, die weltweit jedes Jahr verkauft werden und den sieben Paar, die jeder Deusche zu Hause liegen hat, wird die Skinny Jeans auch weiterhin vertreten sein. Wer sich dem aktuellen Trend widersetzt und die Hose anzieht, einfach weil er Lust drauf hat, ist ja schon fast wieder ein bisschen Punk. Und eins ist sicher: Irgendwann wird sie wieder die Nummer eins sein. Wer dann in dreißig Jahren seine Retro-Skinny aus den 2020ern aus dem Schrank zieht, ist superhip – vorausgesetzt, er passt noch rein in die zweite Haut von damals.