Gespart werden soll in diesem Winter ja an allem. Weniger Gas, weniger Wasser, weniger Wärme. Da passt es wie angegossen, dass ein Kleidungsstück die Modewelt zurückerobert, das sich in seiner Unvollständigkeit wunderbar an den verzichtserprobten Körper schmiegt. Der Pullunder. Dieser Pullover ohne Ärmel. Diese Weste ohne Reißverschluss. Dieses halbfertige Strickteil, von dem man glaubte, es würde die Altkleiderkiste nie wieder verlassen.
Lange galt der Pullunder als Inbegriff von Spießigkeit. Wer ihn trug, am besten noch mit gebügeltem Hemd und Bundfaltenhose, wirkte verklemmt, überangepasst und aus der Zeit gefallen. Das ärmellose Strickteil war die klassische Altherren-Robe. Dem früheren Vizekanzler Hans-Dietrich Genscher war der Torsowärmer quasi auf den Leib geschneidert. Der gelbe Pullunder war sein Markenzeichen. Parteifarbig in rotem Strick war auch das SPD-Urgestein Ludwig Stiegler unterwegs.
Ex-Tennisstar Boris Becker trug Pullunder beim Wimbledon-Finale 1985
Überhaupt wurde der Pullunder anfangs nur von Männern getragen – allerdings selten auf dem politischen Parkett als vielmehr beim Sport. Ein Football-Team aus Michigan soll Anfang des 20. Jahrhunderts erstmals in ärmellosen Oberteilen dem Ball hinterhergejagt sein und damit der „Sweater Vest“, wie der Pullunder im Englischen genannt wird, zum Durchbruch verholfen haben.
Im Cricket oder Golf gehört das Strickteil bis heute zur Standardausrüstung. Auch auf dem Tennisplatz ist der Pullunder immer wieder zu sehen. Ex-Tennisstar Boris Becker trug ihn beim Wimbledon-Finale 1985. Das Match entschied er für sich, modisch konnte er mit seinem weißen Pullunder kaum punkten. Denn angesagt war das ärmellose Strickteil damals nicht.
Daran änderte auch TV-Charakter Steve Urkel aus der US-Serie „Prinz von Bel Airs“ nichts. Ihm wurde der Pullunder in Rautenmuster bloß übergestreift, um das Klischee des Nerds zu unterstreichen. Erst mit Kultserien wie „Clueless“ oder „Gilmore Girls“ avancierte der ärmellose Überzieher als Teil der amerikanischen Schuluniform in den 2000er Jahren zum modischen Must Have. Und weil gerade alles Revival feiert, was in den Nullerjahren angesagt war – Minihandtaschen, Neonfarben und Plastikhalsbänder inklusive –, hat es auch der gestrickte Torsowärmer auf den Laufsteg zurück geschafft.
Der britische Sänger Harry Styles hat den Pullunder-Trend befeuert
Preppy Chic nennt sich der Style, der maßgeblich vom Pullunder geprägt wird. „Preppy“, auf Deutsch adrett, bezeichnet den Look an US-amerikanischen „prep-schools”, Privatschulen, die Kinder wohlhabender Eltern besuchen, um sich auf die Uni vorzubereiten. Doch der Pullunder wird nicht mehr nur von Sprösslingen getragen, die in Segelschuhen über den Golfplatz flanieren. Das Image des Schnöseligen und Spießigen hat das Strickteil längst abgestreift. Inzwischen wurden schon Topmodels wie Bella Hadid oder Kendall Jenner in Pullundern gesichtet.
Befeuert hat den Trend der britische Sänger und Teenie-Schwarm Harry Styles. Der Schönling mit dem schelmischen Lächeln kann bekanntlich alles tragen, stand er doch schon im blau karierten Kleid samt roten Glitzerschuhen auf der Bühne, machte die Erdbeere zum Modemotiv des Sommers und Perlenketten für Männer tragbar. An ihm wurde der Pullunder, ob gestreift, gepunktet oder mit Schäfchen, zum coolsten aller Oberteile.
Nichts könnte den Corona-Schlabberlook also besser ergänzen
Und man muss sagen: Welch ein Glück. Denn genauer betrachtet ist das ärmellose Stück Stoff das perfekte Outfit für den Winter. Bequem, schick und vielfach kombinierbar. Kaum ein Kleidungsstück eignet sich besser fürs Zwiebelprinzip wie der Pullunder. Unterhemden, Shirts, Blusen, Pullis – unter das weit geschnittene Strickteil passt so ziemlich alles, was der Kleiderschrank hergibt.
Zu viel kann es dieser Tage sowieso nicht sein, wenn das Büro mal wieder einer Kühlkammer gleicht und sich die eisigen Finger an die fünfte Tasse Tee klammern. Gleichzeitig haftet dem Pullunder etwas Aufgeräumtes an. Nichts könnte den Corona-Schlabberlook also besser ergänzen. Nicht jeder wird mit dem Strickteil warm werden, aber vielleicht einfach mal anprobieren.