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Debatte: Offener Brief an die Intellektuellen: Bitte noch viel mehr offene Briefe!

Debatte

Offener Brief an die Intellektuellen: Bitte noch viel mehr offene Briefe!

Wolfgang Schütz
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    Auch Richard David Precht unterzeichnete den "Offenen Brief", in dem einige Intellektuelle einen sofortigen Waffenstillstand fordern.
    Auch Richard David Precht unterzeichnete den "Offenen Brief", in dem einige Intellektuelle einen sofortigen Waffenstillstand fordern. Foto: Britta Pedersen, dpa

    Deutschland steht vor der Aufgabe, die richtige Haltung im Angriffskrieg Russlands gegen die Ukraine zu entwickeln. Dazu bedarf es der Entwicklung einer Debatte zur möglichst raschen Klarheit über die eigentlichen Ziele und über die dazu notwendigen Mittel …

    Na gut, das mag ein bisschen arg nah dran sein an der Einstiegsformulierung des bereits dritten, kürzlich in der Zeit erschienen und bislang letzten „Offenen Briefes“ Intellektueller zu diesem Thema. Dieser trug den Titel „Waffenstillstand jetzt!“, forderte, keine Waffen zu liefern, um den Konflikt nicht noch weiter zu eskalieren, und auf Friedensverhandlungen zu drängen. Der Appell wurde unterschrieben von Prominenten wie Juli Zeh und Richard David Precht, Jakob Augstein und Svenja Flaßpöhler, Julian Nida-Rümelin und so weiter – und fand harte Erwiderung. Das „Frieden schaffen ohne Waffen“ wurde da zu „Frieden schaffen ohne Ahnung“ und die Unterzeichnenden wurden zu „Putins nützlichen Idioten“. So nicht etwa getwittert von Noch-Botschafter Melnyk, sondern offen abgedruckt in der FAZ.

    In Frankreich sind "Offene Briefe" von Intellektuellen nicht so unbeliebt wie hier

    Intellektuellen muss man nun freilich nicht erklären, dass es sich in dieser Schärfe nicht etwa um ein typisch zeitgenössisches Markieren von irgendwelchen Meinungskorridoren handelt – sie wissen schließlich, was das Lexikon weiß: dass solcherlei in der Bedeutungsgeschichte der Intellektuellen selbst angelegt ist. Stilprägend nämlich war ein später legendär gewordener Einwurf des Schriftstellers Émile Zola in der Zeitung „L’Aurore“ mit dem im Titel anklagenden „J’accuse …!“ zur Dreyfus-Affäre, einem Justizskandal, der vor bald 125 Jahren Frankreich tief spaltete.

    Und wesentlich wurde der Begriff eingesetzt, um Zola und Gleichgesinnte herabzuwürdigen, nach dem Motto: diese Intellektuellen, schwurbelnde Hirnis und träumende Ideologen, keine Ahnung von der Wirklichkeit, hmpf! Während sich dort daraus aber eine durchaus selbstbewusste und geschätzte Kultur der engagierten und eigenwilligen Intellektuellen bildete, ist in Deutschland der herabwürdigende Ton in der Reaktion auf Unterzeichnende solcher „Offenen Briefe“ bis heute erhalten geblieben.

    Muss eine Gesellschaft jeden so verbreiteten Humbug einfach hinnehmen?

    Soll das heißen, eine Gesellschaft müsste jeden so verbreiteten Humbug einfach hinnehmen? Das könnte man im Sinne einer offenen Gesellschaft befürworten! Denn als demokratisches Leitmotiv einer Debatte kann gelten: Wenn neunundneunzig in die gleiche Richtung gehen, muss der Hundertste aus Prinzip die andere einschlagen. Diesem Prinzip und seiner Akzeptanz aber, liebe Intellektuelle aller Seiten, bekommt ein in eigener Anschauung moralisierender Heldengestus der Aufklärung eher nicht. Und vor allem entbindet das nicht von der Notwendigkeit einer intellektuellen Redlichkeit. Was das nun heißen soll, erklärt am besten ein Intellektueller höchstselbst. Als genau ein solcher bezeichnet, denkt, zurück ins Ursprungsland an die Wurzel der Erscheinung, der Philosoph und Schauspieler Roger Leenhardt darüber nach, was das hier eigentlich heißt: Intellekt. Es ist eine Stelle in Jean-Luc Godars Film „Eine verheiratete Frau“ (ein „Offener Brief“ über die Intellektuellen hier also nun zitiert in einem „Offenen Brief“ an die Intellektuellen, das könnte doch immerhin intellektuell genug sein).

    Leenhardt sagt: „Ehe ich mich zu etwas entschließe, muss ich es genau verstanden haben – das ist die zutreffendste Definition der Intelligenz. Intelligenz ist verstehen vor der Affirmation.“ Also auch vor der Bestärkung und Bestätigung der eigenen Haltung. Im Film weiter erklärt: „Eine Idee über ihre Grenzen hinaus zu verfolgen und auch nach der Antithese zu forschen.“ Die Folge nämlich sei ein Verständnis für andere, das für sich und die anderen, für das Für und das Wider einen winzigen Weg sucht, „einen ganz winzigen“. Und damit kommt es zum Punkt: „Ich weiß, diese intellektuelle Moral ist nicht jedermanns Sache, vor allem nicht heutzutage. Da müssen die Farben grell sein, das Suchen zwischen Schwarz und Weiß erscheint uns nun mal grau.“ Wohlgemerkt, der Film ist von 1964. „Aber trotzdem sind es meiner Meinung nach auch heute die Fanatiker, die uns verärgern, da wir im Voraus wissen, was sie sagen werden. Im Gegensatz dazu die Skeptiker ja nicht – Leute, die das Paradoxe lieben, sind amüsant, sind farbig, weil sie von einer Idee, die auf der Hand liegt, die Gegenidee suchen.“ Lieber ein bisschen wildes Denken statt allzu verständiges Vernünfteln.

    Bitte viel mehr Offene Briefe in diesen Zeiten!

    Der wahre Antrieb des Intellektuellen gelte nämlich nicht dem Rechthaben, sondern der Wahrheit in der Debatte selbst. Leenhardt: „Ein Kompromiss ist etwas außergewöhnlich Gütiges, ist das mutigste intellektuelle Unternehmen. In einem Kompromiss kommen sich die Menschen entgegen, sie geben sich gegenseitig nach.“ Sie belehren also nicht, sie fragen.

    Schließlich: „Ich werde dabei bleiben, dass die Welt gar nicht so einfach zu verstehen ist. Meiner Meinung nach bedeutet Intelligenz, wenn man ein wenig Klarheit in diese Welt bringt, die absurd erscheint.“ In diesem Sinne und mit diesem Ansinnen: Bitte noch viel mehr „Offene Briefe“ in diesen absurden Zeiten! Denn Deutschland steht vor der Aufgabe, die richtige Haltung nicht nur im Angriffskrieg …

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