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Wissen: Das Familientabu: Warum es okay ist, ein Lieblingskind zu haben

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Das Familientabu: Warum es okay ist, ein Lieblingskind zu haben

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    Wenn Eltern ein Lieblingskind haben, kann dies die Beziehung der Geschwister untereinander beeinflussen.
    Wenn Eltern ein Lieblingskind haben, kann dies die Beziehung der Geschwister untereinander beeinflussen. Foto: oksix, Adobe Stock

    Fragen Sie mal in Ihrem Umfeld, ob es im Elternhaus ein Lieblingskind gab. Vermutlich entspinnt sich eine rege Diskussion mit vielen Erinnerungen. Vielleicht kommt auch die ein oder andere seelische Wunde zum Vorschein. Und dann fragen Sie mal Eltern egal welchen Alters, ob sie selbst ein

    Wie viele Eltern tatsächlich eine solche Unterscheidung machen, lässt sich nur schwer sagen. Einfache Umfragen kratzen nur an der Oberfläche, und Studien kommen zu recht unterschiedlichen Ergebnissen – je nach Definition und Forschungsansatz der Wissenschaftler. In einem schon etwas älteren Übersichtsartikel im Fachblatt Current Directions in Psychological Science schätzt ein Team um die Lieblingskind-Expertin Jaclynn Jill Suitor von der Purdue University im US-Bundesstaat Indiana, dass in etwa ein bis zwei Dritteln aller Familien die Eltern eines der Kinder auf die eine oder andere Art bevorzugen. „Das ist ein moralisch aufgeladenes Thema“, sagt der Psychologe Jürg Frick von der Pädagogischen Hochschule Zürich und macht aber auch gleich klar: „Eltern sind nicht neutral.“ 

    Benachteiligte Kinder sind weniger selbstbewusst

    Der Begriff Lieblingskind sei angemessen, wenn ein Elternteil über Jahre hinweg eines der Kinder bevorzugt behandelt, sagt Frick, der sich auf Geschwisterbeziehungen spezialisiert hat. „Das kann subtil erfolgen, indem man beispielsweise am liebsten Zeit mit einem bestimmten Kind verbringt.“ Möglicherweise reagiert Mama oder Papa auch milder bei unerwünschtem Verhalten und lobt mehr bei erwünschtem Benehmen und guten Leistungen. Oder Eltern nehmen sich mehr Zeit fürs intensive Spielen und trösten intensiver. Das müssen die Eltern nicht zwingend merken, die Kinder aber oft schon. Bevorzugung beziehungsweise Benachteiligung könne aber auch massiver sein, sagt Frick. Das favorisierte Kind darf mehr, bekommt mehr und die Eltern unterstützen es fast schon automatisch bei Streitereien unter den Geschwistern. Zudem können Sätze fallen wie „Warum bist Du nicht wie dein Bruder?“ oder „Deine Schwester kann das schon viel besser“. 

    Das kann Spuren hinterlassen. Benachteiligte Kinder seien im Schnitt weniger selbstbewusst, sie neigten eher zu Aggressionen und Depressionen, schreibt Expertin Suitor. Die Systemische Familienberaterin Dorothea Jung hat beobachtet, dass sich ein Kind, dass sich zurückgesetzt fühlt, manchmal auffällig verhält, um Aufmerksamkeit zu bekommen. Die Eltern kommen dann in die Beratung, weil sich der Nachwuchs nicht an Regeln hält, aggressives Verhalten zeigt oder nicht die ihm angedachten Aufgaben erfüllt, erzählt Jung, die auch fachliche Leiterin der Onlineberatung der Bundeskonferenz für Erziehungsberatung (bke) ist.

    Kränkungen in der Kinderzeit sind tief verankert

    Auch im Erwachsenenalter kann die Stellung innerhalb der Familie noch Probleme bereiten – sogar wenn man selbst das Lieblingskind war. „Wenn ein Kind bei den Eltern immer der Star war, muss es in einer normalen Gesellschaftssituation erst mal klarkommen“, sagt Rüdiger Kißgen, Professor für Entwicklungswissenschaft und Förderpädagogik an der Universität Siegen. Möglicherweise hat das Lieblingskind nicht gelernt, sich durchzusetzen. „Das kann Probleme verursachen.“ Beim benachteiligten Kind sind laut Kißgen verschiedene Szenarien denkbar: Es könnte beispielsweise gelernt haben, sich durchzubeißen, und davon noch im Erwachsenenalter profitieren. Oder es könnte sich auf andere Bezugspersonen als die Eltern konzentriert haben, von denen es mehr wertgeschätzt wurde. Im ungünstigen Fall habe das Kind ein geringes Selbstwertgefühl, neige zum Rückzug oder zeige sogar depressive Züge.

    Kränkungen der Kinder- und Jugendzeit seien oft tief verankert, sagt Martin Diewald, Professor für Sozialstrukturanalyse an der Uni Bielefeld. Sie könnten einen Menschen ein Leben lang verfolgen, auch wenn die Ungleichbehandlung irgendwann aufgehört hat. Dabei kann es durchaus sinnvoll sein, seine Kinder verschieden zu behandeln, wie Diewald betont. Denn Begabungen von Geschwistern können sehr unterschiedlich sein: Der große Bruder ist erfolgreicher Sportler, die Schwester tut sich in der Schule leicht und der kleine Bruder verhält sich sozial besonders clever. „Eltern reagieren darauf sehr unterschiedlich“, sagt Diewald. Die einen bemühen sich in einem solchen Fall um Gleichbehandlung, obwohl ein Kind mehr Förderung bräuchte. Doch auch das Gegenteil gibt es: „In ressourcenärmeren Haushalten kann es vorkommen, dass ins aussichtsreichere Kind mehr investiert wird. Da spielt eine Art Effizienzgedanke eine Rolle“, erklärt Diewald. Andere wollen Differenzen mit zielgerichteter Zuwendung ausgleichen.

    Experten zufolge ist es von Mensch zu Mensch sehr unterschiedlich, was ein Kind zum Favoriten macht. „Lieblingskinder sind in der Regel die, die den Erwartungen von Mama oder Papa am meisten entsprechen. Auch Ähnlichkeit zum eigenen Charakter und gemeinsame Interessen können zu einer stärkeren Bindung führen“, sagt Diewald. Das erklärt auch, warum Elternteile oft nicht dem gleichen Kind den Vorzug geben. Lieblingskind-Fachfrau Suitor schreibt, dass Eltern demjenigen Kind oft mit mehr Wärme begegnen, von dem sie selbst mehr Zuneigung erfahren. Und bei drei Kindern sei das mittlere Studien zufolge tendenziell eher selten das Lieblingskind. 

    Großer Einfluss auf das Verhältnis zu den Geschwistern

    Wenn Eltern offensichtlich ein Kind favorisieren, habe dies eindeutig auch einen negativen Einfluss auf das Verhältnis der Geschwister untereinander, diese begegneten sich dann weniger warmherzig, im schlimmsten Fall feindselig. Doch nicht immer favorisierten Eltern das hübschere, ähnlichere, angepasstere oder schlauere Kind. Manchmal fühlen sich Eltern auch jenem Nachwuchs besonders nah, der mehr Sorgen macht oder beispielsweise aufgrund einer Behinderung mehr Betreuung braucht. Zwar sei das Phänomen „Lieblingskind“ in Kinder- und Jugendjahren deutlicher ausgeprägter, sagt Sozialwissenschaftler Diewald. Aber auch wenn der Nachwuchs schon erwachsen ist, kann es noch Lieblingskinder geben. Das könne ganz praktische Auswirkungen haben, etwa wer mehr elterliche Anschubfinanzierung fürs Eigenheim bekommt oder wer im Testament bevorzugt wird. 

    Dabei muss der Status des Lieblingskindes nicht ein Leben lang erhalten bleiben. So sei denkbar, dass ein Kind nach einer schwierigen Kinder- und Jugendzeit seinen eigenen Weg findet – und das den Eltern imponiert. „Manchmal finden Eltern erst später einen Zugang zu ihren Kindern“, sagt Frick. Ein erwachsenes Kind kann auch später zum Favoriten werden, weil es sich besonders intensiv um die alt gewordenen Eltern kümmert, wie Familienberaterin Jung betont. „Das schafft Nähe.“ Doch auch das Gegenteil ist denkbar, wenn sich Eltern in einer solchen Situation von dem Kind zu sehr bevormundet fühlen.

    Grundsätzlich müssen sich Eltern nicht schämen, ein Kind besonders ins Herz geschlossen zu haben. „Es ist ganz normal, ein Lieblingskind zu haben“, sagt Diewald. Die Kinder sollten nur möglichst wenig davon mitbekommen, „beziehungsweise das Bemühen der Eltern um eine gerechte Behandlung erkennen können“, sagt Diewald. Um als Eltern aber erfolgreich gegensteuern zu können, muss man sich des Problems erst mal bewusst sein. „Wenn man sich schnell aufregt oder man schnell starke Sympathien oder Beschützerinstinkte bei einem bestimmten Kind hat, kann das ein Zeichen sein. Dann sollte man sich hinterfragen“, sagt Geschwisterforscher Frick. Zudem sollten sich Eltern fragen: „Habe ich das selbst erlebt als Kind? Reagiere ich auf mein Kind auf eine bestimmte Weise, weil es mich an einen anderen Verwandten, beispielsweise die eigene Schwester, erinnert?“ Der Experte rät explizit dazu, sich mit anderen Eltern über das Thema auszutauschen und ihm damit das Tabu zu nehmen. Auch das Gespräch mit dem eigenen Partner könne helfen, sagt Entwicklungswissenschaftler Kißgen. „Vielleicht stellen Sie fest, dass Ihr Partner oder Ihre Partnerin das ohnehin kompensiert. Falls nicht, achten Sie darauf, sich auch um das nicht favorisierte Kind ausreichend zu kümmern.“ Aber was, wenn einem der eigene Nachwuchs – vielleicht zu Recht – vorwirft, ein (dpa)

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