Selbst in Konzentrationen, die zu niedrig sind, um zu töten, können Pflanzenschutzmittel weitreichende Auswirkungen auf das Verhalten von Insekten haben. Das gilt auch dann, wenn diese gar nicht das Ziel der Mittel sind. Zu diesem Schluss kommt eine aufwendige Studie, deren Ergebnisse im Fachblatt Science veröffentlicht wurden. Deren Autorinnen und Autoren untersuchten die Wirkung von über 1.000 Chemikalien, die im Pflanzenschutz zum Einsatz kommen.
Klimakrise und Umweltschäden, Lichtverschmutzung und versiegelte Böden: Unterschiedliche menschengemachte Faktoren werden für das seit Jahren beobachtete Insektensterben verantwortlich gemacht, das zu einem dramatischen Rückgang der Tiere führt – auch hierzulande. So hatte 2017 eine Studie ehrenamtlicher Insektenkundler des Entomologischen Vereins Krefeld gezeigt, dass die Gesamtmasse an Fluginsekten in Teilen Deutschlands von 1989 bis 2016 um mehr als 75 Prozent abgenommen hat.
Forschende untersuchten die Wirkung von Agrochemikalien an Fruchtfliegen
Dabei spielten vor allem Pflanzenschutzmittel eine Rolle, stellt das Umweltbundesamt fest: „Sie wirken auf Schadorganismen, indem sie deren grundlegende biologische Prozesse, zum Beispiel Photosynthese, Zellatmung und Reizweiterleitung, stören.“ Derartige Mittel zielen meist auf spezifische Organismen ab, so etwa Insektizide auf Insekten, Herbizide auf Pflanzen und Fungizide auf Pilze. Nach Angaben des Beitrags in Science sind auch Dosen von Pestiziden, die zu niedrig sind, um die Insekten zu töten, ein bedeutender aber bislang wenig erforschter Faktor für den Insektenrückgang.
Um diese Wissenslücke etwas zu schließen, führte die Gruppe um Lautaro Gandara vom „European Molecular Biology Laboratory“ (EMBL) in Heidelberg mehrere Versuche durch: Die Forschenden untersuchten die Wirkung von über 1.000 Agrochemikalien in drei unterschiedlichen Konzentrationen. Das Team fütterte 15 bis 30 Fruchtfliegen-Larven in Wachstumskammern mit Flüssignahrung, die jeweils eine bestimmte Konzentration einer chemischen Substanz enthielt.
Mit der Fruchtfliege als Versuchsobjekt traf das Team nach Ansicht von Roel van Klink vom Deutschen Zentrum für integrative Biodiversitätsforschung (iDiv) in Leipzig eine gute Wahl. „Diese ist wahrscheinlich das am besten erforschte Insekt der Welt und lässt sich im Labor leicht züchten“, so der Biodiversitätsforscher.
Anschließend filmten die Forschenden das Verhalten der Larven und dokumentierten, wie viele der daraus entstandenen Fliegen nach zehn Tagen noch lebten. Dabei stellten sie fest, dass nur wenige Chemikalien selbst bei der höchsten Konzentration zu einer hohen Letalität führten, wie der leitende Autor Justin Crocker vom EMBL erläutert.
Test zeigen: Chemikalien verändern das Verhalten von Larven
Entwarnung bedeuteten diese Ergebnisse indes nicht: Denn bei deutlich mehr als der Hälfte der Substanzen – darunter 382 Nicht-Insektizide – verhielten sich die Larven anders als in der Kontrollgruppe, deren Flüssignahrung keine Pestizide enthielt.
„Wir haben festgestellt, dass die Exposition von Larven gegenüber sehr niedrigen Dosen von Chemikalien weitreichende Veränderungen in den physiologischen Prozessen verursacht, die für ihre Entwicklung und ihr Verhalten von entscheidender Bedeutung sind“, sagt Erstautor Gandara. So bewegten sich die Tiere je nach Chemikalie mehr oder weniger, rollten sich oder kontrahierten ihren Körper – dies könnten Zeichen für Stress sein, der die Entwicklung der Fliegen negativ beeinflussen könnte.
Auch Roel van Klink kommentiert: „Die Tatsache, dass 57 Prozent der Chemikalien irgendeine Art von Reaktion bei den Larven hervorrufen, bedeutet, dass sie die Chemikalien wahrnehmen können und versuchen werden, sie zu vermeiden.“ Dies könne Folgen für die Fitness der Larven haben und möglicherweise zu einer geringeren Reproduktion der Fliegen führen: „Aber das wissen wir noch nicht.“
Wichtig zu betonen sei zudem, dass die Umweltrelevanz durch die Versuche bisher nicht vollständig abgedeckt sei, ergänzt Carsten Brühl von der Rheinland-Pfälzischen Technischen Universität Kaiserslautern-Landau: „In den Experimenten wurden Insektenlarven lediglich 16 Stunden lang Pestiziden ausgesetzt, während Insektenpopulationen in der Agrarlandschaft das ganze Jahr über komplexen Mischungen aus niedrigen Konzentrationen verschiedener Pestizide ausgesetzt sind.“
Bei höherer Temperatur wirken Pflanzenschutzmittel schädlicher
Die Forschungsgruppe testete auch für 49 der am häufigsten genutzten Pestizide die Wirkungen bei höheren Temperaturen. Auf diese Weise wollte sie klären, inwiefern sich die Effekte im Zuge der Klimakrise verändern könnten. Tatsächlich stellte das Team fest, dass eine Erhöhung um 2 Grad auf 27 Grad Celsius keinen Effekt, ein Temperaturanstieg um 4 Grad aber „eine ausgeprägte Wirkung“ zeigte. Zum Beispiel habe sich das Insektizid „Lindan“ in den Versuchen bei 29 Grad als stark tödlich erwiesen.
„Überraschend sind sowohl die Vielzahl beobachteter Verhaltensänderungen bei Insekten als auch die Stärke der Effekte bei höheren Temperaturen“, urteilt Christoph Scherber, Leiter des Zentrums für Biodiversitätsmonitoring am Leibniz-Institut zur Analyse des Biodiversitätswandels. Insgesamt fülle die Studie eine wichtige Lücke zu den Auswirkungen von Pflanzenschutzmitteln, insbesondere zu den Langzeiteffekten unter niedrigen Konzentrationen. „Das Spektrum überprüfter Pflanzenschutzmittel ist herausragend und eine Studie wie diese wäre eigentlich schon lange nötig gewesen“, so Scherber.
Um einen realistischeren Rahmen zu schaffen, untersuchten die Forschenden zudem die Wirkung von Mischungen an Pflanzenschutzmitteln, wie sie in der Umwelt nachgewiesen wurden und das in plausiblen Konzentrationen.
„Wir haben einige der am häufigsten nachgewiesenen Chemikalien in der Luft in ökologisch relevanten Dosen gemischt und die Fruchtfliegen diesen erneut ab dem Zeitpunkt des Schlüpfens ausgesetzt“, beschreibt Crocker. Tatsächlich sei so eine viel stärkere Wirkung festgestellt worden: „Wir beobachteten einen Rückgang der Eiablage um 60 Prozent, was auf einen Populationsrückgang hindeutet, aber auch andere Verhaltensänderungen, wie zum Beispiel ein häufigeres Zusammenkauern, ein Verhalten, das in den unbehandelten Gruppen selten zu beobachten war.“ Dies könne auf Stress oder Unbehagen hinweisen – noch wichtiger seien aber zugrunde liegende Probleme wie Toxizität, neurologische Auswirkungen oder gestörte physiologische Prozesse.
„Oberflächlich betrachtet mag das Zusammenkauern unbedeutend erscheinen, aber selbst kleine Verhaltensänderungen können sich auf die Fitness auswirken, wenn sie sich etwa negativ auf die Nahrungsaufnahme, Paarung und Wanderung auswirken“, so Crocker weiter.
Wie die Forschenden selbst einräumen, können sie bisher nicht wissen, ob diese Haltung mit anderen von ihnen festgestellten Veränderungen, wie der verringerten Eiablage, zusammenhängt. Trotzdem sei es wahrscheinlich, dass Larven, die viel Zeit damit verbringen, sich zusammenzurollen, anstatt zu fressen, in einer natürlichen Umgebung nicht gedeihen würden.
Experte fordert: Hersteller sollten auch Kombinationen von Pestiziden testen
Schließlich wiederholte die Forschungsgruppe ihr Experiment mit ausgewählten Pestiziden an Larven der Anopheles-Mücke und des Distelfalters. Auch hier kamen sie zu ähnlichen Ergebnissen. „Insekten – selbst solche, die wie Schädlinge wirken können – sind für den Planeten von entscheidender Bedeutung. Sie bestäuben die Pflanzen, die wir essen, und sind ein wichtiger Teil des Nahrungsnetzes“, betont Erstautor Gandara. „Lange Zeit wurde über die verschiedenen Gründe für Verhaltensänderungen bei Insekten spekuliert, aber jetzt trägt diese Forschung dazu bei, einen wichtigen Faktor zu klären. Eine der wichtigsten Erkenntnisse aus dieser Arbeit ist, dass selbst geringe Mengen bestimmter Chemikalien Auswirkungen haben.“
Doch welche Folgen könnte die Arbeit für die Zulassung von Pestiziden haben, bei der oft nur tödliche Effekte berücksichtigt werden? Christoph Scherber ist sich sicher, dass die Studie große Auswirkungen auf künftige Dosis-Wirkungsanalysen bei Pflanzenschutzmitteln haben werde. Generell müsse darauf hingearbeitet werden, dass in den Testlaboren und bei den Herstellern endlich auch auf Kombinationen von Pestiziden getestet werden. „Die Labore dort arbeiten sehr effizient und es sollte möglich sein, erweiterte Testprozeduren einzubauen“, sagt er und fordert weiter: „Die Berichte, die meist unter Verschluss bleiben, sollten zudem zugänglicher und transparenter gemacht werden.“ Für Deutschland gesehen sei zudem ein flächendeckendes Netz von Messpunkten für Pflanzenschutz-mittel und ein Pestizid-Monitoring nötig.
Insgesamt ist die aktuelle Science-Studie laut Scherber die Erste ihrer Art, entsprechend vorsichtig hätten die Autorinnen und Autoren formuliert. Er betont: „Zunächst einmal liefert diese Studie wichtige erste Hinweise darauf, dass Pflanzenschutzmittel vielleicht doch noch mehr Nebenwirkungen haben könnten, als bisher vermutet. Es liegt also noch viel Arbeit vor uns.“ (Alice Lanzke, dpa)
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