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Wie Mechelen von der schmutzigsten Stadt Belgiens zur Vorzeigestadt wurde

In Mechelen bedeutet Zusammenleben auch Zusammenarbeit. Dafür nutzt die Politik auch unkonventionelle Maßnahmen.
Lernen von den Nachbarn

Vom Schandfleck zum Vorzeigemodell: Warum Menschen in einer belgischen Stadt so gut zusammenleben

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    Grelle Neonröhren an der Decke tauchen die Turnhalle in kühles Licht. Etwa 30 Jugendliche sind an einem Dienstagabend hierhergekommen, in das Royal Gym mitten in Mechelens Innenstadt, um gemeinsam zu trainieren. In schnellen Schritten joggen sie im Kreis um einen ihrer drei Trainer herum. Er zählt auf Flämisch von drei herunter. Die Kinder springen hoch, ziehen die Knie an, landen wieder auf dem Boden und verursachen ein dumpfes Beben in der Halle. Was bei der Trainingseinheit nicht klar ist: Die meisten der Kinder sprechen nicht dieselbe Sprache, haben eine andere Religion und wachsen in unterschiedlichen Kulturen auf. Wie viele Menschen in Mechelen, ihrer gemeinsamen Heimat, haben sie eine Migrationsgeschichte. Eines ist dagegen offensichtlich: Im Royal Gym ist das egal.

    Vor etwas mehr als zwei Jahrzehnten war es undenkbar, dass sich in der Turnhalle Menschen unterschiedlichster Ethnien, Religionen und Altersklassen am Abend treffen würden. Die Vergangenheit Mechelens, mittig zwischen der Hauptstadt Brüssel und der Hafenstadt Antwerpen gelegen, war trostlos. Dreck, Gewalt und Armut – die Stadt belegte in vielen Defizit-Statistiken die obersten Plätze. Nach Sonnenuntergang war die Innenstadt damals menschenleer, niemand traute sich vor die Tür. Bis die lokale Politik beschloss, die Probleme der mittelalterlichen Kleinstadt anzugehen.

    Bürgermeister Somers kennt Mechelens „harte Zeiten“

    Das Gesicht dieser Kehrtwende ist Bartolomeus „Bart“ Somers. Nach vorn gelehnt sitzt er auf der Kante seines Bürosessels und erzählt von seiner ersten Amtszeit als Bürgermeister einer Stadt, in der Kriminalität und Armut das Leben bestimmten: „Die Politiker hatten damals keinen Plan, wie sie mit der Situation umgehen sollen.“ Alle, die genügend Geld hatten, verließen Mechelen, aus Angst, aus Scham, oder aus Perspektivlosigkeit. „Mir war klar, dass das, was die Menschen fühlten, für sie real war und wir nicht weiter die Augen davor verschließen können“, sagt der 60-jährige. Wie die 14 Familiengenerationen vor ihm, ist auch er in Mechelen geboren. Er kennt die „harten Zeiten“ der Stadt aus seiner Jugend. 

    Als Politiker der „Flämischen Liberalen und Demokraten“ hat er in der Migrationspolitik versucht, einen Mittelweg zu finden, der eine „Multikulti-Gesellschaft“ mit einer Politik von „Recht und Ordnung“ in Einklang bringt. Als er 2001 Bürgermeister wurde, baute er die Videoüberwachung in der ganzen Stadt aus und trieb die Stadtreinigung voran. Bis heute begegnet man in den Gassen zwischen den mittelalterlichen Häusern und dem imposanten Rathaus immer wieder Reinigungskräften, die überdimensionierte Staubsauger hinter sich herziehen und Zigarettenstummel, Glasscherben und Müll aufsaugen. 

    Bart Somers ist seit 2001 Bürgermeister von Mechelen.
    Bart Somers ist seit 2001 Bürgermeister von Mechelen. Foto: Nadine Ballweg

    Somers sagt, er wollte Diskriminierung und Kriminalität in einem Zug bekämpfen. Das bedeutete für den Bürgermeister vor allem eines: Genau hinsehen, und den Bürgern immer und immer wieder erklären, was man tut. „Das ist manchmal unsexy“, sagt er und grinst. Bei vielen mache man sich mit einer „Law-and-Order“-Politik nicht sonderlich beliebt – bis sie Wirkung zeigt. 

    Bart Somers wurde zum „Besten Bürgermeister der Welt“ gekürt

    Er erzählt von einer Gruppe Jugendlicher, die vor 15 Jahren in einer Nachbarschaft für Unfrieden sorgten: Drogen-Deals, Lärmbelästigung, aggressives Verhalten gegenüber der Polizei waren an der Tagesordnung. Somers Taktik bestand darin, keinerlei Toleranz für die Gruppe zu zeigen. Das Auto ist nicht ordnungsgemäß versichert – Strafzahlung. Die Lichter stehen nicht im korrekten Winkel – Strafzahlung. Die Straße wird nicht richtig überquert – Strafzahlung. „Wir haben sie verrückt gemacht. Sie kamen nach drei Tagen zum Polizeipräsidium und fragten nach einem Neustart“, erzählt Somers. „Wir mussten klarmachen: Wir sind der Boss. Nicht ihr.“

    Wir mussten klarmachen: Wir sind der Boss. Nicht ihr.

    Bart Somers, Mechelens Bürgermeister

    Somers hat all das schon häufiger erzählt. Routiniert gibt er wieder, wie man versuchte, die Kriminalität aus Mechelens Straßen zu verbannen, sodass Unternehmen und mit ihnen der Mittelstand zurückkehrte. Viele Politikerinnen und Politiker sowie Medienhäuser haben ihn in seinem Rathaus besucht, um zu erfahren, wie diese Wende in Mechelen funktioniert hat und weiterhin zu funktionieren scheint. Die Bücher über seine Erfolgsgeschichte sind Bestseller. Auf dem langen Regal hinter Somers reihen sich Preise aneinander. „Bester Bürgermeister der Welt“ steht auf einem von ihnen eingraviert.

    Neben den Einsatzkräften, der Stadtreinigung und der Kameraüberwachung bezahlt die Stadt Mechelen auch allen Kindern unter 18 Jahren den Zugang zum Royal Gym und anderen Sportvereinen. Den Grund dahinter erklärt Kickbox-Trainer Ivan Goovaerts: „Wenn du den ganzen Abend Sport machst, hast du keine Zeit und keine Energie, auf der Straße rumzuhängen und etwas anzustellen.“ Aktive, konsequente Prävention also.  

    200 Kinder kommen ins Royal Gym, um sich auszutoben

    Beim heutigen Training sitzt er an einem kleinen Plastiktisch, vor ihm ein Laptop. Immer wieder laufen Jugendliche durch die Tür an ihm vorbei, geben ihm die Hand, bevor sie in den großen Kreis rennen, in dem die anderen inzwischen unermüdlich Kniebeuge machen. Een, twee, drie, vier,... Goovaerts hakt ihre Namen ab. Er arbeitet ehrenamtlich im Verein, sein eigener Sohn ist seit elf Jahren dabei.  200 Kinder stehen auf der Liste, heute sind knapp 50 gekommen. Zwei von ihnen sind zum ersten Mal hier. Goovaerts lächelt ein wenig, als er sie unter den Kindern kaum ausmachen kann. Als würde es ihn stolz machen, dass sie nicht auffallen. Dass sie einfach hier sind, mit den anderen, ohne „die anderen“ zu sein.  

    Betrachtet man es oberflächlich, geht es beim Kickboxen um Taktik, um Kraft und Ausdauer. Es ist eine energiegeladene Sportart. In den Köpfen vieler ist es aber auch ein aggressiver Sport. Darauf angesprochen schüttelt Goovaerts den Kopf und nimmt sich einen Moment, um nachzudenken. Sein Blick wandert zur Gruppe, die mit dem Kickbox-Training begonnen hat. Für ihn gehe es bei dem Sport primär um Respekt und Disziplin und darum, das Selbstvertrauen zu stärken. „Ein großer Hund, der weiß, was er kann, bellt nicht. Er ist gelassen und ruhig. Der kleine Hund, der Angst hat, muss sich stärker darstellen, als er ist“, sagt er. Durch den Kampfsport sollen die Kinder eben das lernen: Ruhe, Respekt und Gelassenheit, was sich auch im Zusammenleben außerhalb der Turnhalle widerspiegelt: „Du trainierst hier mit jedem. Das schafft eine Verbindung, selbst wenn du nur lernst, den anderen zu respektieren“, sagt Trainer Goovaerts. 

    Goovaerts: „Wir haben ein Auge darauf, wenn sich die Kinder stark verändern“

    Wer sich allerdings aggressiv verhält und sich wie der kleine Hund durch provozierendes Verhalten zu profilieren versucht, bekommt vom Trainer-Trio nahegelegt, sich respektvoller zu verhalten. „Dann bekommt man erst mal einen Gegner, der viel stärker ist als man selbst“, erklärt Goovaerts und lacht.  Man habe ein genaues Auge darauf, wenn die Kinder sich stark verändern. Dann suche man das Gespräch mit dem Jugendlichen, das helfe meist schon. Doch es gibt auch Grenzen der Toleranz: „Wer sich nicht zu verhalten weiß, wird ein paar Wochen vom Training ausgeschlossen“, sagt Goovaerts. Einmal sei das bisher vorgekommen

    Die Maßnahmen der Stadtverwaltung kosten eine Menge Geld. Das ist die andere Seite der Medaille. Die, über die Bart Somers nicht so viel spricht, sagt Gabriella De Francesco. Die Vize-Bürgermeisterin und Stadträtin für Soziales sitzt in einem modernen Café in der Innenstadt Mechelens und nimmt einen Schluck von ihrem Hafer-Cappuccino. „Wir haben hohe Schulden“, sagt sie, „aber wir können sie bezahlen, weil das neue Mechelen viele Unternehmen angezogen hat. Wir haben sehr hohe Gewerbesteuereinnahmen.“ Die Schulden für Infrastruktur, Sicherheit und Integrationsarbeit waren eine Wette auf die Zukunft. Eine Wette, die Mechelen, wie es aussieht, gewonnen hat. 

    Neue Zugezogene verbringen in Mechelen 40 Stunden mit einem „Buddy“

    Aber es gab auch Änderungen, die fast kein Geld gekostet haben. Das „Big Brother, Big Sister“ Programm der Stadt nimmt etwa Jugendliche in die Pflicht, andere Kinder auf Spielplätzen zu betreuen und zu ermahnen, wenn sie Spielzeuge zerstören oder nach 22 Uhr zu laut sind. Die Kinder sehen dann „keine weißen Polizisten mehr, sondern ihre Brüder und Schwestern, die ihnen das Zusammenleben in der Stadt beibringen“, sagt Somers. Wer neu nach Mechelen kommt, wird außerdem einem „Buddy“, also einem Kumpel zugewiesen, mit dem er oder sie 40 Stunden verbringt. „Samen inburgeren“ nennt sich das Projekt, das nicht mehr bedeutet als „sich zusammen integrieren“, in die gemeinsame Heimat.  

    Was das angeht, musste auch Bart Somers die Perspektive auf seine Stadt verändern: Die meisten Politiker betrachten Städte nicht als eine Gemeinschaft von Bürgern, sondern als Ansammlung verschiedener Gruppen. Sie unterschieden zwischen Muslimen und Nichtmuslimen, zwischen Einheimischen und Zugezogenen. Linke Politiker, sagt Somers, sehen Migranten oft als potenzielle Opfer von Diskriminierung, während rechte Politiker sie als potenzielle Straftäter betrachten. „Sie machen sie zur Karikatur. Wenn man die Bürger in Schubladen steckt und damit einige von ihnen zum Opfer und andere zu Tätern macht, ist es schwer, positive Energie für Veränderung zu finden“. 

    Den Rufen des IS folgte aus Mechelen niemand

    Knapp 30 Kilometer entfernt liegt Brüssel. Die Spuren der dortigen Attentate 2016 und in Paris ein Jahr zuvor führten in den Brüsseler Stadtteil Molenbeek. Aus Medienberichten ist zu entnehmen, dass etwa 200 Menschen aus Brüssel nach Syrien gingen, um sich der Terrororganisation „IS“ anzuschließen. Aus Mechelen sei niemand diesem Ruf gefolgt. Somers erinnert sich an die Stimmung einen Tag nach den Anschlägen in Brüssel. Er erzählt von seinem Besuch in der hiesigen Moschee voller angsterfüllter Menschen. Angst davor, für etwas verurteilt zu werden, das sie nicht begangen hatten. Etwa 20 Prozent der Bürger Mechelens sind Muslime. „Die Terroristen haben ihnen die Identität gestohlen“, sagt Somers heute. Sie müssten sich für nichts entschuldigen, beteuert er damals wie heute. Damals, so erzählt er es, hat er ihnen gesagt, dass ihnen nichts passieren würde, weil sie Teil seiner Stadt sind. Dass er auf ihrer Seite stünde. „Das hat wahnsinnig viel positive Energie erzeugt.“ Auch außerhalb des eigenen Büros Präsenz zu zeigen, sei eine weitere Maßnahme, Mechelen zusammenzuführen.

    Wir fragen uns, wie wir die Geschichte erzählen können, um immer zu zeigen, dass uns mehr verbindet, als uns unterscheidet

    Gabriella de Francesco, Mechelens Vize-Bürgermeistern

    Die Art, wie Mechelens Verwaltung die Geschichte der Gegenwart erzählt, ist immer eine Geschichte einer Gemeinschaft, die sich sicher fühlen kann. „Wenn wir vor einer Herausforderung stehen, fragen wir uns, was wir unternehmen können. Das muss nicht unbedingt für andere Städte funktionieren, es muss für Mechelen funktionieren. Wir fragen uns, wie wir die Geschichte erzählen können, um zu zeigen, dass uns mehr verbindet als unterscheidet“, erklärt auch De Francesco. Diese konsequente Politik und Kommunikation habe sich in den vergangenen 20 Jahren kaum verändert.

    Sport als Integrationsmaßnahme im Royal Gym in Mechelen

    Das Gefühl der Gemeinschaft, des „Verbunden-Seins“ ist auch im Royal Gym spürbar. Unter den Kindern trainieren auch einige Frauen. Eine von ihnen ist Valerie Vanzulpele. Zwei- bis dreimal die Woche komme sie zum Training, erzählt sie. Sie arbeitet im Nachtleben und möchte sich im Ernstfall selbst verteidigen können. Doch allein zu wissen, was sie kann, gebe ihr Sicherheit. Vanzulpele ist Mitte 20 und damit um einiges älter als die meisten hier. Trotzdem fühlt sie sich wie das Mitglied einer großen Familie. „Hier ist jeder willkommen, jeder bekommt Hilfe, wenn er sie braucht“, sagt sie. Dann steht sie auf und geht zu einer anderen Frau, die darauf wartet, weiter mit ihr zu trainieren. Der Rhythmus, in dem sie auf das Schlagpolster eintritt, fügt sich in die Lautstärke der anderen mit ein.

    Am Ende räumen die Kinder und Jugendlichen gemeinsam auf, verstauen die Handschuhe und Matten. Trainer Goovaerts sagt, wenn alle zusammen arbeiten, geht das ganz schnell. Wer die beiden Buben sind, die hier heute zum ersten Mal trainieren, scheint vergessen. Wenn sie möchten, können sie morgen wieder kommen.

    Dieser Text ist Teil der AZ-Sommerreihe „Lernen von den Nachbarn“. Alle weiteren Artikel finden Sie hier.

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