Frau Dalton-Smith, Sie sind Ärztin, Bestsellerautorin und helfen Millionen Menschen mit Ihrer Erholungsforschung. Doch am Anfang davon stand auch für Sie die große Müdigkeit.
SAUNDRA DALTON-SMITH: Richtig. Ich war Mitte dreißig und als Ärztin in der klinischen Praxis tätig, als der Burn-out kam. Ich war immer so müde, also habe ich mich zunächst mit Schlaf beschäftigt, weil ich hier das Problem vermutete. Doch obwohl ich allen Empfehlungen folgte, änderte sich nichts. Da begann ich zu verstehen, dass es einen anderen Grund für meine Erschöpfung geben musste und fing an, diesem auf die Spur zu gehen.
Wie haben Sie das gemacht?
DALTON-SMITH: Anfangs habe ich meinen Tag angeschaut und überlegt, wofür ich Energie verbrauche. Wenn ich mit Patienten zusammensitze, verbrauche ich etwa emotionale Energie, weil ich mich mit ihren Gefühlen auseinandersetze. Und ich verbrauche mentale Energie, weil ich nachdenke. Also habe ich begonnen, verschiedene Arten des Energieverbrauchs aufzuschreiben.
In Ihrem Buch „Sacred Rest“ haben Sie die sieben Arten der Erholung analysiert: körperliche, mentale, spirituelle, emotionale, soziale, sensorische und kreative Erholung. Wie ging es Ihnen, als Sie die Ergebnisse veröffentlichten?
DALTON-SMITH: Anfangs kam ich mir vor wie ein Idiot. Ich dachte, das ist so einfach. Warum spricht kaum jemand darüber? Warum spricht jeder über Schlaf? Die sieben Arten der Erholung haben mein Leben verändert, weil es endlich einen Ausweg aus der Müdigkeit gab. Und dann schrieben mir so viele Menschen Dinge wie: „Sie haben mir das Leben gerettet. Ich wusste nicht, was mit mir los war.“ Das hat mich sehr berührt. Wissen Sie, ich habe das ehrlich gesagt aus sehr egoistischen Gründen gemacht: Ich habe nur versucht, in einem Beruf zu bleiben, den ich liebe.
Nehmen wir an, jemand ist an diesem Punkt: Er ist erschöpft, aber weiß nicht, wieso. Was kann er tun?
DALTON-SMITH: Zunächst würde ich empfehlen, einen Arzt aufzusuchen und sich gründlich durchchecken zu lassen. Wird dabei nichts gefunden, kann es sein, dass ein Ruhedefizit vorliegt. Dafür haben wir einen Selbsttest erstellt. Zudem halte ich es für sinnvoll, Tagebuch zu führen, um herauszufinden, was einen erschöpft.
Aber braucht man dafür nicht auch eine gute Selbstkenntnis?
DALTON-SMITH: Es ist ein Lernprozess, bei dem man sich mit sich und seiner Umgebung beschäftigen muss. Für mich ist der wichtigste Indikator dafür, wie Sie sich fühlen. Sind Sie energiegeladen, wenn Sie morgens aufwachen? Möchten Sie sich einfach wieder umdrehen? Wenn das der Fall ist, kann es gut sein, dass Sie nicht jeden Tag frisch und erholt aufstehen. Dann stimmt etwas nicht.
Also ist müde sein nicht normal als Berufstätige?
DALTON-SMITH: Jeder von uns wird müde, wenn er Energie verbraucht und erschöpft ist. Das ist normal. Aber es ist nicht normal, die ganze Zeit müde zu sein.
Und ausreichend Schlaf löst das Problem nicht?
DALTON-SMITH: Schlaf ist grundlegend. Das Problem ist, dass Ruhe die Brücke zu besserem Schlaf ist. Und weil viele Leute das nicht wissen und erholsame Praktiken nicht nutzen, haben sie eine schlechte Schlafqualität. Ihr Körper schmerzt. Ihr Geist kann nicht zur Ruhe kommen. Sie sind sensorisch überfordert. Schlaf ist nötig, aber er kann Ruhe nicht ersetzen. Schlaf ist eine Art von Ruhe, er fällt in den Bereich des körperlichen Ruhedefizits und ist damit Teil eines größeren Ganzen.
Verwechseln wir Ruhe mit Nichtstun?
DALTON-SMITH: Ja, das ist ein großes Problem. Viele denken: Ruhe bedeutet Anhalten, und das stimmt zum Teil. Aber manchmal erfordert Ruhe eine regenerierende Handlung, etwas, das Sie tun, um den Energiemangel auszugleichen. Wenn ein Mensch blutet und ich die Blutung stoppe, ist er nicht automatisch wieder hergestellt. Vielleicht hat er viel Blut verloren und braucht eine Transfusion.
Sie sagen, dass wir uns in unserem heutigen Alltag in fast allen Bereichen verausgaben. Vor allem die sensorische Überreizung ist in den vergangenen Jahren gestiegen. Sind wir weiter von der Ruhe entfernt als je zuvor?
DALTON-SMITH: Ich glaube schon. Vor einigen Jahrzehnten hat es einen Wandel gegeben, man spricht von Work-Life-Balance. Aber eigentlich möchte das keiner. Da müsste etwas nach oben gehen, etwas nach unten, und beide müssen in dieser mittelmäßigen Mitte sein. Und wir möchten doch, dass es sowohl in der Arbeit als auch im Leben aufwärtsgeht.
Aber der Tag hat nun mal nur 24 Stunden.
DALTON-SMITH: Deswegen brauchen wir ein Umdenken: Harmonie zwischen Arbeits- und Privatleben, beziehungsweise die Integration von Arbeits- und Privatleben. Es geht nicht darum, sich nach der Arbeit zu Hause auszuruhen. Es geht darum, wie wir uns mitten in einem arbeitsreichen Tag erholen können und wie wir diese erholsamen Praktiken dort einbringen - damit wir um 8 Uhr genauso leistungsfähig sind wie um 16 Uhr.
Wie kann das aussehen?
DALTON-SMITH: Das können verschiedene Praktiken sein. Ruhe im Lärm finden mit Kopfhörern, To-dos notieren, damit der Geist sich beruhigt. Die vorbeiziehenden Wolken am Fenster beobachten für die kreative Ruhepause, Dehnübungen. Sich mit Kollegen austauschen für die soziale Erholung, das Handy eine Zeit lang weglegen für die sensorische Erholung oder generell Bildschirmpausen.
Wenn man alle Erholungsarten durchgeht, wird die Liste lang. Ist es nicht fast stressig, sich richtig zu erholen?
DALTON-SMITH: Ich denke schon, dass es eine gewisse Absicht erfordert. Das ist wahrscheinlich der schwierigste Teil davon – es erfordert ein höheres Maß an Selbstmanagement. Aber es ist kein Kästchen, das täglich abgehakt werden muss. Jeder darf selbst beurteilen, welche Art von Ruhe er wann benötigt. An manchen Tagen ist man vielleicht körperlich erschöpft und braucht Zeit auf dem Sofa. An anderen Tagen hatte man vielleicht einen geistig anstrengenden Tag, an dem Bewegung helfen würde. Es geht darum, herauszufinden: Was hilft mir heute am besten?
Hilft eine Erholungs-Routine?
DALTON-SMITH: Bestimmte Routinen können Menschen guttun – auch, weil das gegen die Entscheidungsmüdigkeit hilft, die viele Menschen haben. So esse ich zum Beispiel an den meisten Tagen der Woche fast dasselbe zum Frühstück, weil es mein Leben vereinfacht. Beim Abendessen dagegen mag ich viele Optionen, deshalb habe ich da nie Routinen. Für die meisten Menschen ist es wichtig, dass bestimmte Dinge geregelt sind und andere ihnen ein bisschen Freiheit geben. Wir möchten das Gefühl haben, wählen zu können, was wir wollen, möchten aber nicht von der Auswahl überwältigt werden.
Es gibt einige Leute, die das Gefühl haben, dass wir uns in unserer Gesellschaft zu sehr auf uns selbst fokussieren. Was denken Sie darüber?
DALTON-SMITH: Ich glaube, dass wir uns nicht genug auf uns selbst konzentrieren. Wir verbringen viel Zeit damit, uns auf andere Menschen zu konzentrieren - was sie denken und wie wir auf sie wirken. Würden wir den Fokus auf uns lenken, würden uns die Gedanken anderer nicht so sehr darum kümmern. Wir würden mehr darauf achten, was uns glücklich und gesund macht, was uns in die Richtung bringt, in die wir gehen möchten - selbst wenn andere Leute das nicht verstehen oder gut finden.
Also drehen wir uns bei Selbstdarstellung etwa im Internet gar nicht um uns selbst?
DALTON-SMITH: Nicht wirklich. Ich glaube, das ist einer der Gründe, warum so viele sogar ihre erholsamen Momente in den sozialen Medien posten. Für sie ist es wichtig, dass andere Menschen sie bei der Ausübung der Aktivität sehen, anstatt sie einfach nur auszuführen und sich darauf zu konzentrieren, wie sie ihnen hilft.
Sie selbst sind gläubig und sprechen von spiritueller Erholung. Braucht man die, um vollständig erholt zu sein?
DALTON-SMITH: Ja – meiner Ansicht nach wird es ansonsten immer einen Defizitbereich in uns geben, der die Erschöpfung spürt, weil nichts hineingesteckt wird. Ich denke, dass jeder Mensch von einer Art spirituellen Beziehung profitieren würde.
Mit Gott?
DALTON-SMITH: Ich persönlich glaube, dass jeder Mensch eine Beziehung zu Gott braucht, um die Fülle der spirituellen Ruhe zu erlangen. Ich bin mir aber auch bewusst, dass viele Menschen erst einen möglicherweise anderen Zugang zu Spiritualität brauchen. Meistens frage ich sie, wo sie sich geliebt und akzeptiert finden. Spiritualität entsteht, wenn sich der eigene Geist erleuchtet und gestärkt und mit anderen verbunden fühlt. Wenn man jemand etwas Gutes tut, zum Beispiel.
Kann man irgendwas falsch machen? Oder braucht die Genesung dann einfach länger?
DALTON-SMITH:
Es braucht ein bisschen Geduld und Ausprobieren – und eine Neubewertung, was einen wirklich aufbaut. Man sagt Menschen, die abnehmen möchten: „Versuchen Sie nicht, die ganzen 50 Pfund über Nacht zu verlieren, das geht nicht über Nacht.“ Das Gleiche gilt für Müdigkeit. Sie sind nicht erst gestern zum ersten Mal müde aufgewacht. Viele Menschen sind seit Jahren müde, manche seit Jahrzehnten. Das geht nicht über Nacht vorbei.
Zur Person:
Saundra Dalton-Smith lebt und arbeitet als Ärztin im US-Bundesstaat Alabama. Sie studierte Biochemie an der Universität von Georgia und gab Kurse zu den Themen Gesundheit und Ernährung. Sie hat mehrere Bücher geschrieben, darunter „Sacred Rest“. Darin definiert sie sieben Arten der Erholung - die körperliche, mentale, spirituelle, emotionale, soziale, sensorische und kreative Erholung - und erklärt, wie es sich auf Beziehungen, die Gesundheit oder die Produktivität auswirkt, wenn eine dieser Formen zu kurz kommt. Um Menschen einen ersten Anhaltspunkt zu geben, hat sie mit restquiz.com auch einen Online-Selbsttest entwickelt.
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